Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
bis sie, mit eben ausgezahltem Wochenlohn erstanden, den jubelnden Kindern ins Stübchen getragen wurden. Draußen vor der Stadt, wo weniger Verkehr herrschte, war der Schnee liegengeblieben.
Mädchenfüße zeichneten schmale Umrisse in den weichen Schneeteppich. Kinderfüße, breiter und plumper, verwischten das zarte Muster. Sie hatten es eilig, weiterzukommen, die Mädchenfüße, aber trotzdem, ihre Besitzerin blieb ab und zu stehen. Waren die schweren Pakete, die sie sowohl wie ihre kleine Begleiterin trug, daran schuld? Mit großen, schwarzen Augen schaute sie still in den Schnee.
»Weiter, Fräulein Jetta, wir müssen weiter. Die Kinder im Hort sind sicher schon alle da. Und nachher warten Tante Geheimrat und Mutter Trudchen zu Hause mit dem Aufbau.« Lottchen drängte vorwärts.
»Weißt du noch, Lottchen, wie wir das erste Mal beide im Tropenland Weihnachten miteinander feierten? Da glühten die Rosen, und sengende Sonne brannte auf Palmen und Kakteen. Damals konnte ich es mir nicht vorstellen, das verschneite Häuschen der deutschen Großeltern - und immer ist es mir noch wie ein Wunder, der erste Schnee.« Marietta sprach mehr zu sich selbst als zu ihrer Begleiterin.
»Ja, ich weiß es noch, Fräulein Marietta. Sie waren so gut zu mir. Es war nach Muttels Tode.« Lottes rundes Gesicht war ernst geworden. »Jedes Kind hat heute seine Mutter oder wenigstens eine Großmutter, die es liebhat und ihm den Weihnachtsbaum anzündet. Nur ich nicht!« Selten nur kam es vor, daß Lottchen sich verwaist fühlte und dem Ausdruck verlieh.
»Du hast doch uns, Lottchen, und vor allem Kunzes. Deine eigene Mutter könnte dich nicht lieber haben als Mutter Trudchen. Und was tut Vater Kunze alles für dich. Du genießt soviel Liebe, mehr als manches Kind, das seine Eltern hat.«
Marietta dachte an den kleinen Otto, der jedem im Wege war. »Nicht undankbar sein, Lottchen!«
»Ich bin nicht undankbar, nur ...« Lottchen schwieg. Sie konnte es wohl nicht in Worte fassen, jenes Gefühl der Familienzusammengehörigkeit, das der Weihnachtsabend ganz besonders auslöste, und sie fragte sich, ob denn Marietta heute nicht Heimweh verspürte. Fühlte sie sich denn nicht mehr zugehörig zu dem weißen Marmorhaus unter hohen Palmen? Oh doch, wenn ihre Heimat auch hier bei ihren alten Großeltern war, so waren Mariettas Gedanken heute bei ihrer Familie in Brasilien. Sie sah sie alle vor sich, besonders aber ihre liebe Mutter, wie sie heute in die Tropennacht hinaus ihr deutsches Weihnachtslied sang und sich mit ihren alten Eltern, ihrem fernen Kinde über Länder und Meere hinweg verbunden fühlte. Weihnachten überbrückte jede Entfernung. Sie sah einen blonden Mann unter glühender Tropensonne und ...
»Fräulein Jetta, schnell, ganz flink, die Bahn wird gleich abgehen.« Lottchens aufgeregte Stimme zerriß das Bild. Die Stadt hatte heute etwas Feierliches. Jedes Schaufenster, auch das kleinste, bescheidenste, hatte sich mit Tannengrün bekränzt. Lichter strahlten auf, blendende Helle flutete auf die Straße hinaus. Im Kinderhort hatte man schon alles zur Bescherung vorbereitet. An dem großen, bis zur Zimmerdecke reichenden Baum wuchsen all die Silber- und Goldnetze, die roten, blauen und grünen Papierketten, all die vergoldeten Nüsse und zierlichen Sächelchen, an denen fleißige Kinderhände sich wochenlang gemüht hatten. Auf der langen Tafel lagen für jedes die Gaben ausgebreitet, nützliche Sachen, zum Wärmen, aber auch ein Spielzeug fürs Herz. Auch die Mütter, die ihre Kleinen begleiteten, durften nicht leer ausgehen. Kaffee, Zucker und Mehl, eine Wurst und ein Weihnachtsstollen waren für jede vorgesehen.
Lottchen hatte recht. Sie waren schon alle versammelt, die Hortkinder. Frisch gewaschen, mit glattgekämmtem Haar und reinen Kleidern. Den Finger verlegen im Munde, verkrochen sie sich hinter der Mutter. Es war heute so ganz anders im Kinderhort, so fremd und feierlich.
Aber als Marietta erschien, vergaßen sie ihre Schüchternheit. Da waren sie mit einem Male alle wieder höchst mobil, hingen sich ihr an den Arm und quälten: »Tante Jetta, geht's noch immer nicht los?«
Marietta hatte den ganzen Vormittag bereits beim Aufbau geholfen. Dann war sie schnell nach Lichterfelde hinausgefahren, um Lottchen und den Rest der Pakete zu holen. So, dies Buch hier für Ingeborg, den Kaufmannsladen, mit allerlei guten Sachen gefüllt, für den dicken Gustel. Wie würde sich Lenchen über das hübsche rote Kleid von Evchen
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