Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
nehmen Sie dies hier zu einem Weihnachtsbraten.« Nein, ganz vermochte Marietta doch noch nicht auf die Stimme der Vernunft zu hören. In den Dank der erfreuten Frau mischten sich Stimmen.
»Marietta, wo bleibst du? Das Auto wartet. Wenn du mitfahren willst, komm schnell«, rief man von unten herauf. Es waren Hartensteins. Der Vater hatte ihnen das Fabrikauto zur Verfügung gestellt, damit sie pünktlich zur eigenen Bescherung wieder daheim sein konnten.
Marietta schwankte. Lottchen und sie hatten bequem mitfahren können, es war nur ein kleiner Umweg für die Zehlendorfer, wenn man sie an der Berliner Straße absetzte. Und die Großeltern würden sich freuen, wenn sie nicht so spät kämen. Aber nein - da lagen noch Gaben. Ein Kind hatte sein Weihnachten noch nicht bekommen. Es war Ottchen. »Fahrt nur allein, ich habe noch einen Weg zu machen. Frohe Weihnacht und auf Wiedersehen am ersten Feiertag!« rief Marietta zurück.
»Ach, wir gehen noch weiter?« meinte Lottchen enttäuscht. Sie wäre zu gern Auto gefahren. »Tante Geheimrat und Mutter Trudchen warten gewiß schon mit dem Aufbau.«
»Wenn du mit Hartensteins fahren willst, ich habe nichts dagegen, Lottchen. Ich will noch zu einem armen Kind gehen, das sonst gewiß kein Weihnachtslicht sieht.« Nur einen Augenblick schwankte Lotte. Dann schmiegte sie sich an Marietta. »Ich gehe mit Ihnen, Fräulein Jetta.« Das gute Beispiel wirkte. Marietta packte Ottchens blaue Hosen, den Wintermantel von Heinz, warme Handschuhe und eine Trompete zusammen. Dazu kamen Pfefferkuchen und Äpfel, die Lebensmittel für die Mutter, denen Marietta auf eigene Faust, da sie die Not der Familie kannte, noch so manches beigefügt hatte. Auch an Ottos Geschwister hatte sie gedacht. Keins ging leer aus. Es waren schwere Pakete, welche Marietta und Lotte durch die Straßen trugen.
»Fräulein Jetta«, fing Lotte an, »heute bei der Bescherung habe ich so an meine Mutter denken müssen, und da habe ich wirklich geglaubt, sie stände wieder vor mir. Dabei war's nur Lenchens Mutter, Frau Neumann.«
»Sieht sie wirklich deiner Mutter ähnlich, Lotte?« forschte Marietta. Wie seltsam, daß auch ihr eine Ähnlichkeit zwischen den Kindern aufgefallen war.
»Nee, eigentlich sieht sie ganz anders aus. Es war bloß einen Augenblick lang ...«
Lotte legte der Sache weiter kein Gewicht bei.
Auch Marietta versuchte den Gedanken, der sie plötzlich durchzuckte, zurückzudrängen. Was war denn auch Seltsames dabei, daß Lotte bei der Bescherung, wo jedes Kind neben seiner Mutter stand, an die eigene, verstorbene hatte denken müssen und dann eine der Mütter dafür angesehen hatte. Nein, das war gar nichts Besonderes. Und auch die beiden Kinder - eine Laune, ein Spiel der Natur war's wie es tausendfach vorkommt. Nur nicht wieder eine Hoffnung entzünden, die noch jedesmal erloschen war. Lottchens Mutter kam ja aus Westfalen. Also - trotzdem, ganz frei konnte sich Marietta nicht von der sie bedrängenden Vorstellung machen.
Endlich standen beide Mädchen an der ausgetretenen Steintreppe, die zu Ottos Kellerwohnung führte. Wohnung, nun das war eine beschönigende Bezeichnung für das dunkle Kellerloch. Früher hatten die Eltern Holz und Kohlen darin verkauft. Aber dann konnte man keine Vorräte mehr anschaffen, es reichte gerade noch zu dem Leierkasten, mit dem der Vater auf den Höfen herumzog. Auch heute war er noch auf Wanderschaft. Seine beiden Ältesten, Junge und Mädel von acht und neun Jahren, begleiteten ihn und sangen ihre Weihnachtslieder zu den Klängen der Drehorgel. Am Heiligabend hat jeder ein offenes Herz und eine offene Hand. Besonders, wenn man arme, frierende Kinder auf dem Hofe unten »Stille Nacht« singen hört, während man den eigenen droben den reichen Gabentisch aufbaut.
Dunkel war's in dem Keller. Die Mutter war zum Bäcker nebenan gegangen. Vielleicht gab er noch mal ein Brot ohne Bezahlung. Man war zwar schon mit sechs Stück bei ihm angekreidet, und er hatte gesagt, daß er ohne Geld und ehe die anderen bezahlt wären, keins mehr herausgäbe.
Marietta hatte die Kerzen an dem Weihnachtsbäumchen angesteckt. »Du kannst dort warten, Lotte. Ich bin gleich wieder da.« Damit öffnete sie die Tür zu dem kalten, schlecht gelüfteten Raum.
Es ließ sich zuerst nichts erkennen bei dem Zitterschein der Christbaumkerzen. War der Raum leer, war keiner da?
Da - ein Freudengeheul aus einer dunklen Ecke: »Sette - Sette!« Und da kam er herbeigestürzt, so schnell die
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