Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
anders. Still und leuchtend, von innen heraus. Ihre Augen sprachen eine viel deutlichere Sprache, als ihr Mund es vermochte. Wenn Frau Annemarie an die jubelnde Freude ihrer Ursel vor vielen Weihnachtsabenden zurückdachte, war es kaum denkbar, daß dies ihre Tochter war. Und doch das Warme, Strahlende, das war ihnen gemeinsam. Das war Familieneigenschaft, deren Urquell in Frau Annemarie selbst zu finden war. Noch heute vermochte die Großmama ihrer Freude lebhafter Ausdruck zu geben als die Enkelin. Nein, daß das »Kind« auch noch für sie gearbeitet hatte, obwohl es doch schon genügend angestrengt war. Aber gerade solch eine gestrickte Weste hatte sie sich gewünscht. Wie hatte das Marietta nur in Erfahrung gebracht. Ach, war das weich, wollig und mollig. Die Großmama mußte sie gleich umtun. »Na, wie gefalle ich dir, mein Alterchen?« Und dabei sah sie mit ihrem schneeweißen Haar so jung und hübsch aus, daß der alte Geheimrat seiner Annemarie einen Kuß geben mußte - wie einst im Mai. Er selbst stand mit etwas gemischten Gefühlen vor dem Weihnachtstisch, den Marietta aufgebaut hatte. Ein Pelz lag da, ein nagelneuer, kostbarer Otterpelz. »Aber von mir ist nur die Pelzmütze, der Pelz ist von den Eltern, Großpapa, weil dein alter nun wirklich schon ausgedient hat. Damit kannst du Kunze glücklich machen, hat Mammi geschrieben, als sie mir den ehrenvollen Auftrag erteilte.«
»Was, mein schöner alter Pelz? Ich denk' halt gar nit dran. Lieber geb' ich den neuen her. Wir beide sind miteinander alt geworden, der Pelz und ich, haben Wind und Wetter miteinander Trotz geboten. Und wenn ich der Kaffeekönigin von Brasilien nimmer gut genug in dem alten bin, dann soll sie halt nur im Sommer herkommen.« Er war ordentlich erregt, der alte Herr.
Marietta war ganz bestürzt über die Wirkung ihres Geschenkes. Großmama aber lachte ihr liebes, ansteckendes Lachen. »Nun sieh mir einer diesen Poltergeist an. Bekommt einen so herrlichen Pelz geschenkt und tut, als ob man ihm seinen fortstibitzen will. Das hätte unser Urselchen mit anhören müssen. Ausgeschüttet hätte sie sich vor Lachen. Schau nur, wie betroffen das Kind dasteht. Also, ich denke, wir schließen einen Kompromiß, mein Alter. Bei Wind und Wetter bleibst du deinem alten Pelzkumpanen treu, und wenn du mit deiner lieben Frau spazierengehst, führst du den neuen aus. Ist' s o recht?« »Meine Frau hat immer recht.« Der Großvater war schon wieder besänftigt. »Aber daß du mir nimmer wieder so unvernünftig viel Geld vertust, Mariele. Davon kann eine Familie halt ein ganzes Jahr leben.«
Mariettas Gesichtsausdruck wurde noch bestürzter. Hatte sie nicht recht gehandelt, daß sie den kostbaren Pelz gekauft hatte? Wenn sie an das Elend da unten in dem Keller dachte - nun, da würde sie schon helfen. Sie hatte es sich sowieso vorgenommen. Der Weihnachtsscheck, den der Vater ihr jedes Jahr anweisen ließ, der sollte dazu verwendet werden, den armen Menschen wieder eine Existenz und bessere Lebensmöglichkeiten zu schaffen. Da rief auch schon die Großmama in ihrer heiteren Art: »Laß nur gut sein, Seelchen, der Kürschner will auch leben. Nun wollen wir aber die Weihnachtskiste aus Brasilien auspacken.« Die bildete stets den Höhepunkt bei der Bescherung. Kunze hatte bereits vorher den Deckel gelöst. Aber erst zur Bescherung durfte ausgepackt werden. »Jetzt werden sie mir halt noch Pelzstiefel und 'na Fußsack aus den Tropen schicken - 's ist halt das Geeignetste von dort«, meinte der Geheimrat schon wieder schmunzelnd. »Undankbarer Gesell, da sieh, was dir dein Urselchen schickt. Ein großes Ölgemälde von Donna Tavares. Mein Urselchen!«
Die Weihnachtskiste wäre so bald wohl nicht weiter ausgepackt worden, denn Großpapa, Großmama und Marietta waren vollständig versunken in Ursels noch immer liebreizende Züge. Da ertönte Frau Trudchens Stimme: »Frau Jeheimrat, die Karpfen warten.« Aber da war nichts zu machen. Mit Frau Ursels Bild konnte nichts mehr konkurrieren. Weder das mattgrüne Seidenkleid für Marietta mit dem Begleitzettel der Mutter. Es hat dieselbe Farbe wie mein erstes Konzertkleid, in dem ich mich verlobt habe. Mögest du, meine Jetta, ebenso glücklich darin werden' weder der Crepe-de-Chine-Umhang mit den wunderbaren, gestickten Blumen, in dem sich Frau Annemarie wie eine Fürstin vorkam, noch all die herrlichen Früchte und fremdartigen Süßigkeiten, die man in Europa nicht kannte, ja nicht einmal das Schwarzseidene für
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