Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
zu der Tante Jetta im Kinderhort einlud, schnell versüßt. Ja, Gustel meinte sogar schleckend: »Das wär' fein, wenn Tante Jetta immer so fortgehen würde.« Und dann kam irgendeine andere Tante, Tante Grete oder Tante Else oder wie sie gerade hieß, und wenn sie auch vielleicht nicht ganz so gut mit den Kindern umzugehen verstand, sie gewöhnten sich an sie und verlangten nicht mehr nach Tante Jetta. Kinder sind oft undankbar. Nur Lenchen, ihre treueste kleine Verehrerin, machte eine Ausnahme. Die guckte sich die Augen am Fenster aus, wenn die jungen Damen drüben aus der Frauenschule heimgingen. Oder sie stand sogar Schildwache drunten am Portal und war nicht zu bewegen, nach Hause zu gehen, bis die Tante Jetta ihr einen Gruß zugenickt oder gar ihr freundlich über das semmelblonde Haar gestrichen hatte. Marietta machte diese rührende Anhänglichkeit des kleinen Lenchen innerlich glücklich. Sie fühlte sich befriedigt in ihrer Arbeit. Sie hatte das Bewußtsein, bereits Gutes geschafft zu haben. Lenchens Mutter hatte durch die soziale Fürsorgeabteilung für Heimarbeit eine lohnendere Beschäftigung zugewiesen bekommen. Die Wohnungsfürsorge hatte sich auf ihre Bitte auch der Not in dem ehemaligen Kohlenkeller angenommen. Da Marietta, dank des Weihnachtsschecks aus Brasilien, die notwendigen Mittel zur Verfügung stellte, so hatte man ein kleines Seifengeschäft, dessen Besitzer gerade gestorben war, mit anschließender, sauberer Wohnung für Ottchens Eltern erworben. »Von einem unbekannten Wohltäter«, hieß es. Aber Ottos dankbare Mutter stellte sich denselben trotzdem wie den Engel vom Weihnachtsabend vor, der Licht und Freude in ihr dunkles Dasein getragen hatte.
Die neue soziale Tätigkeit, die Marietta mit dem ersten Februar begonnen hatte, war schwieriger und unerfreulicher als ihre Hortarbeit. Nicht nur, daß sie stundenlang bei dem hohen Schnee und den dadurch schlechten Verkehrsmöglichkeiten straßauf, straßab laufen mußte. Nicht nur, daß es unermüdlich treppauf, treppab ging. Nein, was ihr die Arbeit erschwerte, war der oft unerfreuliche Empfang, dem sie ausgesetzt war, das feindselige Mißtrauen, mit dem man ihren hilfreichen Absichten so manches Mal begegnete. Das kränkte ihr weiches Gemüt und machte sie oft mutlos.
Da war es Gerda Ebert, die der Kusine immer wieder frischen Mut zusprach. Wie konnte man sich von einem Einzelfall nur so mitnehmen lassen. Das war doch nur ein kleines Mosaiksteinchen, das sich erst zu dem segensreichen Ganzen zusammenfügen sollte. Nun ja, man hielt ihre Einmischung als Jugendfürsorgerin von seiten der Eltern als durchaus unnötig und unerwünscht. Man hatte ihr deutlich zu verstehen gegeben, daß man allein wüßte, was den Kindern guttäte - aber dachte Marietta etwa, das ginge ihr nicht genau so bei ihrer Säuglings- oder Wohnungshygiene? Oh, was hatte sie da nicht schon alles zu hören bekommen. Aber deshalb durfte man die Flinte doch nicht ins Korn werfen. Im Gegenteil, man mußte den unverständigen Menschen klarzumachen suchen, daß die soziale Fürsorge ihr Bestes im Auge habe und daß diese unberufene Einmischung ihren Kindern zugute käme. Oh, Gerda hatte schon manche bekehrt. Sie verstand zu sprechen und für die gute Sache einzutreten. Marietta war viel zu schüchtern, viel zu feinfühlend. Man mußte sich ein dickes Fell anschaffen. Und hatte Marietta ihr nicht berichtet, daß die Leute ihr hier und da schon freundlicher entgegenkämen? Daß sie ihre gute Absicht nicht mehr verkannten?
Marietta nahm sich immer wieder vor, nicht so empfindsam zu sein, sich von einem Mißerfolg nicht gleich zurückschrecken zu lassen. Dennoch war sie jetzt oft still und blaß, wenn sie des Abends von ihrer schweren Tätigkeit in das großelterliche Haus heimkehrte. Der Großpapa brummte über die moderne Frauenarbeit, bei der das Notwendigste, die Gesundheit der Frau, Schaden litte. In der letzten Woche hatte es viel Arbeit gegeben. Es galt jetzt schon, erholungsbedürftigte, noch nicht schulpflichtige Kinder für die Ferienkolonien zusammenzustellen. Nach einer langen Liste mußte Marietta ihre Rundreise durch den für sie in Frage kommenden Stadtbezirk antreten. Sie mußte prüfen, ob die gemachten Angaben stimmten, und die Kinder zur ärztlichen Untersuchung in das Jugendfürsorgeamt bestellen.
Wie sie so treppauf, treppab lief, hier einen kleinen Blaßschnabel aufnotierte, dort der Mutter eines kugelrunden Pausbacks den Rat erteilte, ihre Eingabe
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