Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
Frau Trudchen, das diese aber bis zu ihrer Silberhochzeit aufheben wollte. Und dann waren die Weihnachtskarpfen verzehrt und die Meinungsverschiedenheiten, ob Frau Ursels Bild im Biedermeierzimmer oder in des Geheimrats Zimmer den Ehrenplatz bekommen sollte, dahin entschieden worden, daß Kunze es im Wohnzimmer aufhängte. Und dann erloschen die Lichter eins nach dem andern.
Die Fäden entwirren sich
Das neue Jahr hatte Schnee gebracht. Nicht nur leichten Puderzucker, nein, richtigen, dichten Flockenschnee, als ob Frau Holles Wolkenbetten alle zu gleicher Zeit aufgeplatzt wären. Das ganze Berlin glich einer Alabasterstadt. Die Dächer gleißten wie Schneehalden in der Sonne, die Kirchtürme ragten gleich Gletschern aus der Firnkette heraus. Drunten aber in den Straßen da jauchzte, juchzte und kreischte es, da purzelte und kegelte es lustig durcheinander. Schneegeschosse flogen; weiße, dickbauchige Männer mit schwarzen Glotzaugen und roter Rübennase machten sich breit. In jeder Straße, in der engsten Gasse webte das Wintermärchen.
Freilich, es gab auch Lebewesen, die ganz und gar nicht mit diesem Schneetreiben einverstanden schienen. Das waren vor allem die Stadtväter, die tüchtig in den Säckel greifen mußten, um die sich ständig erneuernden Schneemassen fortschaffen zu lassen. Die Hausmeister waren es, die den ganzen Tag mit klammen Händen, über die sie abgeschnittene Wollstrümpfe gezogen, den Schnee von Hof und Straße zur Seite schaufeln mußten. Eine Arbeit ohne Sinn. Je mehr man schaufelte, um so toller wirbelte es herab. Auch die armen Pferde, die schwere Lasten ziehen mußten und in dem hohen Schnee kaum vorwärts kamen, konnten absolut nichts Vergnügliches an dem Winterwetter finden. Die Vögelchen waren schon gar nicht erbaut davon. Weiß, alles weiß und kalt. Nur selten fanden sie jetzt mal ein Körnchen Futter.
Die gefiederten Gesellen, die in der Nähe des großen roten Backsteingebäudes ihre Wohnstatt aufgeschlagen hatten, waren gut daran. Aus den Klassenfenstern der sozialen Frauenschule streuten liebreiche Mädchenhände vom eignen Frühstücksbrot für die piepsenden, frierenden kleinen Gäste. Marietta hatte schon ihre feste kleine Tafelrunde, die sich täglich vermehrte. Und auch drüben im Kinderhort hatten die Spatzen ihren Stammtisch. Mariettas Hortkinder sorgten wie sie selbst für die armen Frierenden und Hungernden. Der Hofgarten unten lag nicht mehr verödet da. Jubelnde Kinderstimmen belebten ihn. Der nackte Kastanienbaum fror nicht mehr in seinem neuen, weißen Pelz. Auch die Großen wurden durch das tolle Schneetreiben wieder ausgelassen wie die Gören. Eben hatte man sich noch höchst gelehrt mit pädagogischer Psychologie beschäftigt, und unmittelbar darauf schlidderte man unten über die glatten Schneeflächen, purzelte, bekam einen Schneeball an die Ohren und teilte selbst welche aus. Diese Winterfreuden übten auf Marietta, das Kind der Tropen, in jedem Jahr aufs neue wieder ihren Zauber aus. Sie war eine der lustigsten, das Temperament ihrer Mutter und Großmutter meldete sich. Die blasse Teerose blühte dabei auf.
»Das Mariele müßte vier Wochen zum Wintersport in die Berge, das tät' halt dem zarten Tropenpflänzchen gut«, äußerte sich der alte Geheimrat.
»Und Milton schreibt, ob das Kind nicht mal auf ein paar Monate nach Italien zu den Verwandten seiner Mutter nach Genua gehen könnte.«
»Freilich, Großmuttchen, erst fahre ich in die Berge zum Wintersport, dann auf ein paar Monate nach Italien, und in Genua kann ich mich ja gleich nach Brasilien zur Hochzeit von Anita einschiffen. Etwa in anderthalb Jahren bin ich dann zum Schlußexamen in der sozialen Frauenschule wieder zurück«, lachte Marietta. Es erschien ihr ganz unmöglich, ihre soziale Tätigkeit auch nur einen Tag auszusetzen.
Aber mit ihrer Seßhaftigkeit war es doch zu Ende. Fräulein Engelhart war der Ansicht, daß Marietta Tavares die Hortarbeit vollständig beherrsche. Zum ersten Februar wurde sie einem anderen Dienst zugeteilt. Das gab eine schmerzliche Trennung. Die Kinder wollten ihre Tante Jetta nicht hergeben. Und dieser selbst wurde das Fortgehen von der ihr ans Herz gewachsenen kleinen Schar noch viel schwerer. Aber sie blieb ja in der Nähe. Die Frauenschule war ja nur durch den Hofgarten vom Hort getrennt. Da konnte sie schnell mal wieder hinaufspringen. So tröstete sie die Kleinen und sich selbst. Der Trennungsschmerz der Kinder wurde durch die Abschiedsschokolade,
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