Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
rasch gesund. Ich schicke einen Arzt, der nach dir sehen soll. Mit solch einer Verstauchung ist nicht zu spaßen. Die darf man nicht auf eigene Faust kurieren. Grüße die Mutter schon. Bald komm' ich mal wieder zu dir«, versprach Marietta.
»Ja, sähen Se, liebe Dame, mit den Doktersch, das is halt ooch solche Sache«, meinte die Großmutter, ihren Gast hinausbegleitend. »Mer kenn'nhn halt nich bezahlen, den Doktor. Und zum Armenarzt - man hat doch ooch seinen Stolz. Ja, wenn die Tochter aus Amerika Geld schicken täte, aber wer weiß, ob sie ieberhaupt noch läbt.« Die alte Frau seufzte tief. Mariettas Füße waren plötzlich in den Erdboden hineingewachsen. Keinen Schritt vermochte sie weiterzugehen.
Amerika - da war es, das Wort, um das sich all ihre Gedanken in der letzten Viertelstunde gedreht hatten.
Mechanisch tat ihr Mund die Frage, die ihr auf der Seele brannte: »Sie haben noch eine Tochter in Amerika, Frau Liebig?«
»Nu freilich, nu natierlich. Was halt meine Älteste, meine Lottel is, die is mit ihrem Mann nach Amerika riebergemacht. Zuerscht hat se ooch noch immer geschrieben, ooch ein paar Dollar hat se ihrer alten Muttel geschickt. Aber nu - nu heert man halt gar nischte mehr von drieben. Nur der da droben weiß, ob se noch läbt.«
Mariettas Herz krampfte sich zusammen. Wenn die alte Frau hätte ahnen können, daß noch jemand darum wußte, daß vielleicht neben ihr jemand stand, der über ihre Tochter Auskunft geben konnte, der ihre letzten Grüße, ihr letztes Vermächtnis, ihr Kind, in Empfang genommen hatte.
Sekunden, Minuten verstrichen. Das junge Mädchen wurde sich dessen gar nicht bewußt. Wie gebannt stand sie hier in dieser kleinen Küche. Es war, als ob unsichtbare Hände sie festhielten.
»Ihre Tochter ist nach Nordamerika hinübergegangen?« fragte sie, obwohl sie im Innern vom Gegenteil überzeugt war.
»Nu nee, nach Südamerika, nach Brasilien is se halt hingemacht.«
»Und sie hieß?« Marietta biß sich auf die Lippen. Bei einem Haar hätte sie selbst den Namen Müller hinzugesetzt.
»Müller heißt se - Lottel Müller, halt geradeso wie ihr kleines Töchterchen. Nu, das kann jetzt ooch nich mehr allzu kleene sein, das muß - warten Se mal, liebe Dame - nu so an die dreizehn, vierzehn kann das Kindel nu ooch schon ganz gutt sein. Ja, wenn man nur wißt, ob se ieberhaupt noch läben tun alle miteinander.«
Die in Gedanken versunkene alte Frau sah plötzlich ganz erschreckt hoch. Die Tür schlug vor ihr zu. Ohne weiteres Abschiedswort war ihr Besuch auf und davon. Hatte sie das Interesse des fremden Fräuleins mit ihren Privatangelegenheiten zu sehr in Anspruch genommen? Die alte Frau besaß Herzenstakt. Es war ihr peinlich, lästig gefallen zu sein.
»Tante Jetta war heute gar nicht so lieb wie sonst im Kinderhort«, meinte drin auch Lenchen, über die dagelassenen Gaben streichelnd, als wäre sie die Geberin selbst. Die aber jagte die vielen Treppen hinab, als ob die Furien hinter ihr her wären. Unten aber blieb sie stehen. Die Beine waren ihr wie gelähmt. Sie fühlte sich zum Umsinken matt. Es war ihr, als ob sie eine gewaltige Last mit sich schleppe: Schwere Verantwortung. Langsam, Schritt für Schritt, ging sie durch den Schnee. Ihre Gedanken jagten sich, wirbelten durcheinander wie die Flocken, die sich an ihren Mantel, in ihr Kraushaar hingen. Was nun?
Nun war es entschieden. Licht war in die Dunkelheit gekommen, die Lottes Herkunft bisher verhüllt hatte. Ein Irrtum war ausgeschlossen. Dazu sahen sich die beiden Kinder, Lottchen und Lenchen, zu ähnlich. Sie waren Kusinen, es gab keinen Zweifel mehr. In Mariettas Hand war das Schicksal dieser Familie gelegt. Wenn sie schwieg, würde es wohl kaum jemals zutage kommen, daß Lotte die Enkelin der alten Frau Liebig war. Ob es nicht das Beste für Lottchen war, wenn sie schwieg und ihre Entdeckung ganz für sich behielt? Das Kind hatte liebevollen Ersatz für die verstorbenen Eltern gefunden. Lotte besuchte das Lyzeum. Sie wuchs in bescheidenen, aber auskömmlichen Verhältnissen auf. Und dort oben in der sauberen Wohnung der alten Frau hatte die Not sich zu Gaste geladen. Tat sie Lottchen, tat sie dieser Familie etwas Gutes damit, wenn sie ihr das Kind zuführte? Noch ein Mitesser mehr - die Sorge durfte sie nicht auf die Schultern der armen Leute wälzen. Und wenn sie auch selbst die Mittel für Lottes Unterhalt hergab, da waren Kunzes, denen mit dem Kinde das Glück und die Freude ihres Lebens genommen wurde.
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