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Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar

Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar

Titel: Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Else Ury
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ja wie eigenes und litt darunter. Ja, so würde es sicher gewesen sein.
    Die Tür knarrte. Der alte Geheimrat trat herein, zum Fortgehen gerüstet. Bevor er in die Klinik ging, mußte er doch beim Mariele nachsehen. Obwohl Frau Annemarie mit den Augen und mit der Hand abwinkte, trat er an Mariettas Lager und griff nach ihrem Puls. »Ganz normal«, flüsterte er beruhigend. »Aber du, Fraule, schaust halt sehr übernächtigt drein. Leg dich aufs Ohr, meine Alte. Hole den versäumten Nachtschlaf nach und schnarch mit dem Mädl' halt ein Duett.«
    Obwohl der Geheimrat seine Stimme auf pianissimo gedämpft hatte, schlug Marietta die Lider auf.
    »Jetzt hast du das Kind aufgeweckt, Rudi!« Großmama war ungehalten. »Nun - nun, wenn's Mariele fünfzehn Stunden hintereinander geschlafen hat, genügt das, sollt' ich meinen. Sonst müßt' man halt annehmen, daß sie von der tropischen Schlafkrankheit befallen sei«, scherzte der Großpapa, ebenso glücklich wie seine Frau, daß ihr Liebling sie mit klaren Augen anblickte.
    »Ja, was ist denn - warum seid ihr denn hier an meinem Bett. Ist was passiert?« Marietta konnte sich im Augenblick nicht gleich wieder zurechtfinden. »Halt nix weiter, als daß uns gestern abend eine ohnmächtige junge Dame ins Haus geschneit ist. Solche Dummheiten machst nimmer wieder, verstehst, Mädle!« Ein Schleier zerriß, der noch Mariettas Erinnerungsvermögen umwallte. In plötzlicher Erkenntnis streckte sie den Großeltern die Hände entgegen. »O ihr Ärmsten, wie müßt ihr erschrocken gewesen sein. Ganz blaß schaut die Großmama noch drein.« Sie streichelte die liebe Hand.
    »Wie ist dir denn jetzt zumute, mein Liebling?« »Hungrig«, lautete die befriedigende Antwort.
    »Bravo, Mariele, so ist's g'scheit Jetzt frühstückst du halt mit dem Großmutterle, und dann bleibst brav liegen, ruhst dich aus und langweilst dich. Das ist die beste Medizin für rebellierende Nerven«, verordnete der alte Arzt, sich zum Gehen wendend. »Ausgeschlossen, Großpapa - ganz ausgeschlossen! Ich muß so schnell wie möglich in die Frauenschule. Wir haben heute besonders wichtige Stunden. Und nachmittags muß ich wieder zu den Arbeiterfamilien ...«
    »Na, Weible, was sagst nun zu solch einem Mädle? Hat der liebe Herrgott ihm nun zuwenig Verstand mitgegeben oder nit? Und das sind schon die gescheiten, die allen möglichen Firlefanz in ihren Kopf hineintrichtern, sich damit die Nerven ruinieren und dann noch immer keine Vernunft annehmen. Also kurz und bündig, daraus wird nimmer was, Mariele. Heute heißt's halt parieren. Liegen bleibst - punktum! Grüß' Gott miteinander!« Polternd verließ der Geheimrat das Zimmer.
    »Ich bestelle jetzt bei Frau Trudchen das Frühstück, und du machst dich inzwischen frisch und legst dich nachher wieder brav hin.« Damit war die Großmama auch schon wieder hinaus.
    Frau Trudchen - wie ein Stich ging es Marietta durch das allmählich wieder zurückkehrende Bewußtsein.
    Als die Großmama zurückkehrte, lag Marietta noch immer, mit großen, gequälten Augen auf das Rosenmuster der Tapete starrend.
    »Nanu - noch nicht gewaschen, du Faulpelz?« Aber trotz ihres Scherzens gingen der Großmama leuchtende Augen in stummer Frage zu dem jetzt wieder blassen Mädchenantlitz. »Eile dich, Jetta, Frau Trudchen bringt gleich das Frühstück.« Als Frau Trudchen dann in ihrer behäbigen Gemütlichkeit erschien und sich teilnehmend erkundigte, ob Fräulein Jetta auch »Nu wieder janz bei sich wäre«, ja, da erschien Marietta der Großmama auch nicht wie sonst. Lange nicht so freundlich, wie sie immer zu sein pflegte. Man merkte ihr an, daß ihr Frau Trudchens Anwesenheit störend war. Die brave Frau zog sich auch alsbald zurück. Oben in dem gemütlichen Zimmer verwunderte sich die Großmama, daß Mariettas großer Hunger schon so rasch gestillt war. Sie mochte das Butterbrötchen kaum aufessen. »Vielleicht rutscht ein Zwiebäckchen besser?« versuchte sie zuzureden. Aber Marietta schüttelte den Kopf. Ihre Eßlust war bei Frau Trudchens Anblick gänzlich verflogen. Der Alpdruck hatte sich ihr wieder auf die Brust gelegt. Sie kam sich vor wie ein Dieb, welcher der gutherzigen Frau ihr liebstes Kleinod rauben wollte.
    Viel besser wäre es für sie gewesen, sie wäre in die Frauenschule gegangen. Der Unterricht verlangte volle Aufmerksamkeit, nahm alle Gedanken gefangen. Die Arbeit hätte sie am leichtesten abgelenkt. Aber der Großpapa hatte recht: Sie brauchte Ruhe. Nur die paar

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