Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
Nein - nein - sie durfte nicht sprechen. Besser, sie schwieg. Aber hatte sie ein Recht dazu?
Neue Gedanken kamen, verdrängten die anderen, kreisten in ihrem Hirn. Hatte sie nicht die Verpflichtung, zu sprechen? »Nur der da droben weiß, ob sie noch lebt« Hatte der Wind, der um die Ecke raste, ihr soeben wieder diese Worte ins Ohr geraunt? War es nicht ihre Pflicht, der alten Mutter Gewißheit und Ruhe zu geben? Durfte sie ihr das Enkelkind vorenthalten? Und Lottchen selbst - sie hörte wieder die sehnsüchtige Stimme des Kindes am Heiligabend: »Jedes Kind hat heute eine Mutter oder doch eine Großmutter, die es liebhat und ihm den Weihnachtsbaum anzündet - nur ich nicht!« Durfte sie das Kind von seinen endlich entdeckten Angehörigen fernhalten?
Flocken jagen, Gedanken kreisen. Scharfer Wind kühlt die brennende Mädchenstirn. Marietta wußte nicht mehr, wie lange sie so in dem Schneetreiben umhergeirrt war. In einer ganz fremden Gegend fand sie sich wieder. Sie hatte gerade noch die Kraft, zu dem Autoplatz hinüberzugehen und dem Chauffeur die Adresse des Großvaters anzugeben. Dann sank sie in die Polster des Wagens, und es war ihr, als ob sie in Nacht versänke. Eine Ohnmacht bändigte den Wirbelsturm ihrer Gedanken.
Wiederfinden
Die erste Sinneswahrnehmung, die Marietta, aus dem Meer der Betäubung auftauchend, wieder hatte, war die Stimme der Großmama: »Seelchen, was ist denn nur geschehen? Willst du denn die Augen gar nicht aufmachen, mein Liebling?« Es schwang solche Herzensangst, solch eine sorgende Liebe in diesen wenigen Worten mit, daß Marietta mit aller Gewalt versuchte, die sie mit eisernen Banden umklammernde Willenlosigkeit abzuschütteln. Aber es wollte nicht gelingen.
»Laß das Kind, Annemarie. Schau, es ist total erschöpft. Es braucht vor allem Ruhe. Ruhe und Wärme. Da kommen wir am Ende mit einem Schnupfenfieber davon. S'is halt zuviel für das Tropenprinzeßle, das Herumlaufen im Schneegestöber. Überarbeitung und Überanstrengung, 'geht halt so lang' wie es eben geht.« Das war der Großvater.
Marietta wollte entgegnen, daß sie weder überarbeitet noch überanstrengt sei. Aber die Sprache gehorchte ihr noch nicht.
»Der Puls ist nit schlecht«, hörte sie den Großvater wieder sagen. »Wollen dem Mädle halt mal einen Löffel Kognak einflößen.« Dann fühlte sie etwas kühl Metallisches an ihren Lippen, darauf etwas Brennendes, Feuriges auf der Zunge, sie schluckte - und plötzlich gingen die Augen wieder auf. Die schweren Lider hoben sich. Nur für eine Sekunde. Sie sah der Großmama liebes Gesicht dicht über sich geneigt, mit einem Marietta fremden Ausdruck. So etwas Schmerzliches, Gespanntes - wann hatte sie diesen Ausdruck nur schon mal gesehen? Sie vermochte sich nicht daran zu erinnern, daß es vor Jahren gewesen, damals, als der Großvater schwer erkrankt war. Ihr Bewußtsein war schon wieder von der Flut des Unbewußten überspült worden. Ihre Glieder lösten sich in wohligem Erschöpfungsschlaf.
Als Marietta daraus erwachte, schaute ein neuer Tag zum Fenster herein. Sie hatte fünfzehn Stunden hintereinander fest geschlafen. An ihrem Bett saß die Großmama, genau wie gestern, mit bangen Augen den Schlaf ihres Lieblings behütend. So hatte sie die ganze Nacht hindurch neben dem Bett gesessen und war nicht zu bewegen gewesen, sich selbst zur Ruhe zu begeben.
Sie betrachtete die feinen Gesichtszüge, die langen, schwarzen Wimpern und das goldene Haar. Niemals war der Großmutter die Schönheit der jungen Enkeltochter so zum Bewußtsein gekommen.
»Seelchen ...«, flüsterte Frau Annemarie vor sich hin. Dankbarkeit für all die Liebe, all das Glück, das sie durch die Enkelin im Alter erfahren hatte, lag darin. Sie löste den Blick von dem Bild der Schläferin, denn Marietta schien unruhig zu werden. Die fein geschwungenen Brauen zogen sich zusammen, über der Nasenwurzel erschien eine kleine Falte. Dann ein Seufzer - was hatte das Kind? Träumte es, oder war da noch etwas anderes als Überanstrengung, was die Veranlassung zu dieser Bewußtlosigkeit gegeben? Die Großmama saß, sann und grübelte. Aus dem Tropenland war kein Brief in letzter Zeit gekommen, der irgendwelche Aufregung verursacht haben konnte. Das war immerhin eine Beruhigung. Wie hatte damals Anitas Verlobung in Mariettas Seelenleben eingegriffen. Das Kind war eben besonders zart besaitet. Vielleicht war da irgendein trauriger Fall in ihrer sozialen Tätigkeit. Fremdes Elend empfand Marietta
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