Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
Schritte bis zum Waschtisch hatten es ihr gezeigt. Die Beine waren ihr wie gelähmt, und sie war froh, als sie wieder im Bett war. Inzwischen hatte die Großmama es »gemütlich« gemacht. Das verstand keine andere so wie sie. Auf den Tisch hatte sie ihr schönstes, mattrosa Alpenveilchen gestellt, ihren Liebling unter all ihren Blumen. Sie nannte es Marietta, weil es dieselben zarten Farben zeigte wie die Enkelin.
Süßer Blumenhauch ihrer Namensschwester grüßte Marietta. Dann saß die Großmama im Peddigrohrsessel neben ihr mit ihrer Arbeit. Und als nun Marietta das liebe Gesicht mit den blauen Augen unter dem schneeweißen Haar betrachtete und dann den Blick hinaussandte in die Schneelandschaft, da war es ihr, als ob die Großmama der Inbegriff aller Geborgenheit wäre. Als ob in ihrer Nähe nichts Schweres, Bedrückendes standhalten könnte. Großmamas Stricknadeln klapperten, und sie erzählte. Von ihrem Elternhaus, wo sie als kleines, blondes Nesthäkchen der Liebling der ganzen Straße gewesen war. Von den Brüdern, mit denen sie so manchen Streich verübt hatte. Denn ob Marietta es glauben wollte oder nicht, ein halber Junge war ihre alte Großmama damals gewesen. Ihr ältester Bruder Hans - er ruhe in Frieden! - habe manch liebes Mal Frieden stiften müssen zwischen den jüngeren Geschwistern. Denn der Klaus war ein Raufbold, und sie selbst - na, allzu brav und mädchenhaft war sie ganz gewiß nicht gewesen. Marietta erinnerte sich doch noch an den Onkel Klaus auf Lüttgenheide? Wenn es auch schon drei Jahre her war, daß man damals an der Waterkant gewesen war. Ei, freilich kannte Marietta den alten Großonkel noch mit dem wettergeröteten Gesicht, dem weißen Backenbart und seinen lustigen Späßen. Sein jüngster Sohn Horst erinnerte sehr an den Vater, aber er war ernster, obgleich er auch gern mal einen Scherz machte. Und während die Großmama weitererzählte und nun schon bei der nächsten Generation, bei ihren drei Küken, angelangt war und von jedem etwas Charakteristisches, irgend etwas Drolliges aus der Kinderzeit zu berichten wußte, war Marietta weit fort. Sie löste erst ihre Gedanken von der Ferne, als die Großmama bei Mariettas Mutter, ihrem Lieblingsthema, angekommen war und der Tochter von der Verlobung ihrer Eltern erzählte. Wie schwer es gewesen war, den Großpapa herumzukriegen. Und wie es ihr so manches liebe Mal leid gewesen war, wenn die Sehnsucht nach ihrer Ursel sie gar zu sehr gepackt hatte. Aber jetzt kamen solche Stunden immer seltener. Nicht etwa, daß sie sich an die Trennung gewöhnt hätte, wie der Großpapa meinte. O nein, das kann eine Mutter nicht. Aber sie hatte ja jetzt Ersatz, den allerbesten - ihre Jetta. Und wenn sie nur erst wieder ein bißchen frischer aussehen möchte - halt, jetzt mußte Marietta unbedingt ein geschlagenes Ei mit Wein nehmen. Das würde sie erquicken. Und schon war die Großmama trotz des etwas steifen Knies aus der Stube und ließ Marietta in einer Atmosphäre von alten Erinnerungen zurück. Erst als Lottchen aus der Schule kam und noch mit der Mappe auf dem Rücken an Mariettas Tür klopfte, um ihr einen Krankenbesuch zu machen und um stolz von einem tres-bien unter der letzten Klassenarbeit zu berichten, zerriß das Netz von Gemütlichkeit, das Marietta eingesponnen hatte. Da war sie wieder, die krasse Wirklichkeit mit ihrer zur Entscheidung drängenden Forderung. Jedes harmlose Wort aus dem Kindermund wurde für Marietta zu einer Pein. Und als Lotte sich gar noch anbot, nach Tisch bei Marietta zu bleiben, damit die Tante Geheimrat ihre Mittagsruhe halten könne, ja, da war Marietta zum ersten Mal in ihrem Leben egoistisch.
Nein - nein - sie konnte Lottes Anwesenheit nicht ertragen. Lottchen war ihr zu lebhaft, machte ihr Kopfschmerzen. Sie blieb viel lieber allein. Die Großmama konnte sich ruhig hinlegen.
Aber davon wollte natürlich Frau Annemarie nichts wissen. Obwohl der Großpapa über Verweichlichung und sentimentale Anwandlungen brummte, sie machte ihr Nickerchen ebensogut oben im Korbsessel bei ihrem Liebling. Aber es wurde nicht viel aus dem Nachmittagsschläfchen. Marietta war unruhig. Sie drehte den Kopf, warf sich von einer Seite auf die andere und vermochte doch den blauen Kinderaugen, deren Blick sie verfolgte, nicht zu entrinnen. Wie traurig enttäuscht Lotte sie angeschaut hatte, daß Marietta sie nicht um sich dulden mochte. Und noch etwas hatte in dem Kinderblick gelegen, etwas Anklagendes. Ach Unsinn, das bildet sie
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