Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
sich nur ein. Schnell geschlafen, auf die andere Seite gelegt - so, nun würde sie Ruhe haben vor den quälenden Kinderaugen. Aber nein, das waren sie schon wieder. Diesmal gehörten sie Lenchen, und nun blickten sie ihr gar aus dem verrunzelten Gesicht der alten Frau Liebig entgegen. Ein schwerer Seufzer löste den Druck, der das junge Mädchen beschwerte. »Seelchen« - da war die Großmama schon wieder munter - »ist dir was, mein Herz? Tut es dir irgendwo weh?« Marietta schüttelte stumm den Kopf. Aber wenn man bald siebzig Jahre lang mit den Menschen Freud und Leid geteilt hat, dann weiß man sich auch auf seelische Schmerzen einzustellen. Frau Annemarie gab sich nicht zufrieden. Trotz der Nachtwache kam ihr kein Schlaf. Sie ging in Gedanken den Weg zurück, den Marietta gestern gewandert war, und hakte bei ihrem Samaritergang ein. Dort mußte etwas geschehen sein, was die Enkelin in ihrem Innersten erschüttert hatte. Und da sie merkte, daß auch Marietta keinen Schlaf fand, schoß sie gerade auf ihr Ziel los. »Du hast mir gar nichts von Lenchen erzählt, Jetta. Hat sie sich denn gestern über deinen Besuch gefreut?« forschte sie.
»O ja, sehr.« Marietta drehte sich schnell der Tapete mit den Rosenknospen zu, damit die Großmama nicht sehen sollte, daß ihr eine Blutwelle über das Gesicht jagte.
Hm - da schien sie ja ins Schwarze getroffen zu haben. Frau Annemarie verfolgte den Weg weiter. »Und wie sind Lenchens Angehörige, Kind? Waren sie nett zu dir?«
»Das ist doch selbstverständlich.« Mariettas Antwort kam kurz und abweisend. Gar nicht so lieb wie sonst. Sie sprach immer noch gegen die Tapete.
»Du bist so merkwürdig, Jetta. Hast du dort irgendeine Kränkung erfahren?«
Wie liebevoll das klang. Marietta vermochte nicht zu antworten. Es war ihr, als ob ihr jemand die Kehle zusammenpreßte. Da fuhr die erfahrene Menschenkennerin fort: »Ich will mich ja nicht in dein Vertrauen drängen, Seelchen. Aber - eine alte Großmama weiß manchmal besser Rat als ein junges Ding, das noch nicht viel vom Leben gesehen hat.«
Wieder eine lange Pause. Ein schwerer Kampf für Marietta. Wenn sie jetzt sprach, dann war's entschieden. Dann gehörte das Geheimnis nicht mehr ihr allein. Aber hatte die Großmama nicht schon so oft geholfen? Vielleicht konnte sie ihrer aufgewühlten Seele auch diesmal wieder Ruhe geben?
»Mir ist eine merkwürdige Ähnlichkeit zwischen unserem Lottchen und dem Lenchen aufgefallen.« Mariettas Mund sprach ganz mechanisch, als würde er nicht von ihrem Willen geleitet.
»Nun ja, es sind eben zwei Blondköpfe.« Wollte Marietta von dem ihr unbequemen Gesprächsthema nur ablenken?
»Auch die alte Großmutter, die Frau Liebig, hat dieselben eigenartig gezeichneten Augenbrauen.« Da war's dem Mädchenmunde entschlüpft. Frau Annemaries Blick verschärfte sich. Trotzdem tat sie unbefangen. »Warum soll die Enkelin nicht dieselben Augenbrauen haben wie die Großmutter? Du siehst mir auch ähnlich, Seelchen ...« »Ja, aber Lottchen, unser Lottchen, Großmama!« Und als die alte Dame immer noch nicht zu verstehen schien, fügte sie erregt hinzu: »Die alte Frau Liebig hat früher in Westfalen gelebt. Und - ihre Tochter Lotte ist nach Südamerika - nach Brasilien ausgewandert. Sie haue ein Kind, ein Töchterchen, das wie die Mutter hieß. Seit Jahren ist sie verschollen. Begreifst du denn nicht, Großmama?« Die Worte überstürzten sich. Da war kein Halten mehr. Wie ein Sturzbach, der alle Bedenken davonschwemmt, sprudelte es aus ihr heraus. Still saß die Großmama. Sie sprach nicht. Alle Aufregungen, denen Marietta gestern ausgesetzt gewesen war, empfand sie ihr nach. Dann sagte sie mit möglichst ruhiger Stimme: »Also wieder ein Fingerzeig. Wieder ein Anhaltspunkt. Hoffentlich verläuft die Spur nicht im Sande wie schon öfters.«
»Nein, Großmama. Diesmal ist es gewiß. Auch der Familienname stimmt. Lottchen ist die Enkelin der alten Frau Liebig«, flüsterte Marietta. Trotzdem hatte sie das Gefühl, als ob die Wände ihr das Geheimnis zurückschrien.
»Nun, Kind, wenn du deiner Sache so sicher bist, dann weiß ich wirklich nicht, warum dich diese doch immerhin erfreuliche Tatsache so in den Fugen erschüttern konnte. Hast du der alten Frau Liebig Mitteilung von deiner Entdeckung gemacht?« »Nein, Großmuttchen. Das ahnt weiter noch keine Menschenseele, nur du und ich. Und ich weiß auch nicht, ob es je noch ein anderer erfahren soll. Das ist es ja, was mich so elend macht, das
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