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Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar

Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar

Titel: Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Else Ury
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Fräulein Wohlgemut war lange nicht so lieb und so lustig, die sah mit ihrer Brille auf der Nase immer so ernst und streng aus. Nein, Tante Jetta gaben sie nicht her.
    Unter dem Nußbaum ging es heute recht lebhaft zu. Obwohl Feierabend war, ruhten die Hände noch nicht. Da wurden Tannengirlanden gebunden, leuchtend rote Transparente mit allerlei Inschriften und bunte Papierballons aus großen Paketen ausgepackt. Die Kinder waren in begreiflicher Aufregung. Morgen war Erntefest auf Lüttgenheide. Da wurde die Tenne gefegt, mit Fähnchen und grünen Gewinden zum Tanzsaal geschmückt. Da standen unten in der Vorratskammer wohl an die zwanzig wohlgeratener Erntekuchen. Große Fässer Bier waren bereits abgeladen. Groß und Klein hatte nur den einen Gedanken, ob's auch morgen nicht regnen würde. Wer ein weißes Kleid besaß, hatte es für diesen Tag aufgespart. Es war, als ob die Gänse, Enten und Hühner sich ebenfalls des wichtigen Tages bewußt waren. Sie schnatterten und lärmten durcheinander, nicht viel anders als die Gören. Und nun war er da, der ersehnte Tag. Die Sonne tat heute ihr möglichstes, dem Lüttgenheider Erntefest allen Glanz zu verleihen. Sie gleißte auf den Trompeten der Dorfkapelle. Sie spiegelte sich in all den erwartungsvollen Kinderaugen. Lange, blumengeschmückte Tafeln waren auf dem großen Grasplatz, der sonstigen Wäschebleiche, aufgestellt. Obenan saßen Großvating und Großmutting. Daran schloß sich der Gutsherr Peter mit der Großmagd Dörting und Frau Lising mit dem Großknecht Krischan. So wollte es die gute alte Sitte, der man noch auf Lüttgenheide treu geblieben war. Man hatte Arbeit und Mühe miteinander geteilt, man teilte jetzt auch das Vergnügen. Marietta machte an dem Görentisch mit einer Kaffeekanne von riesigen Dimensionen die Runde. Lotte half ihr dabei. Die Lütten ließen es sich schmecken. Die Kirschallee entlang kam der Landbriefträger mit seinem Ledersack und dem Krückstock. Der Postbote war hier eine wichtige Persönlichkeit. Verband er doch die Landbewohner mit der Welt da draußen. Heute ging er schneller als sonst. Erntekuchen und Erntebier winkten auf Lüttgenheide. Er brachte Zeitungen und Päckchen, die sich dieser oder jener aus der Stadt bestellt hatte, und einen ganzen Berg Briefe. Da war einer, der von Großmutting freudestrahlend in Empfang genommen wurde. »Von unserm Jung' Vating, ein Brief von unserm Jung!«
    Da waren Briefe und Karten, teils mit ungelenker Handschrift, die waren an die Berliner Kinder von daheim und wurden ebenfalls freudig begrüßt.
    »Fräulein Marietta Tavares« - das war der letzte Brief, den der Postbote aus seinem Sack zog. Großmamas Handschrift trug er. Aber irrte sich Marietta? Die Schriftzüge kamen ihr gar nicht so sicher und fest vor wie sonst. Eiligst entwischte sie unter den Nußbaum, um dort in Ruhe zu lesen. Dabei kam ihr zum Bewußtsein, daß sie über eine Woche nichts aus Lichterfelde gehört hatte. Es war nur ein kurzes Schreiben.
    »Meine Jetta! Es wird mir schwer, diese Zeilen an Dich zu richten. Und doch - es muß sein. Wie habe ich Dich in der vergangenen Woche herbeigesehnt, mein Liebling. Sie hat uns Schweres gebracht. Unser Großpapa, der in letzter Zeit immer mehr über seine Augen klagte, hat plötzlich seine Sehkraft verloren. Da steht es nun auf dem Papier, das Furchtbare.«
    Marietta konnte nicht weiterlesen. Ein Schleier legte sich auch auf ihre Augen - Tränen brachen unaufhaltsam hervor. Barmherziger - das war ja nicht denkbar! Sie vermochte es noch nicht zu fassen, das Grausame, das da so plötzlich in das friedliche Leben der alten Großeltern gekommen war. Nichts mehr sehen - blind? Sie schloß die tränenverdunkelten Augen. Keine goldene Sonne, keinen Wolkenhimmel, keinen grünen Baum, nicht mehr seine lieben Rosen, an deren Farben sich der Großpapa jeden Morgen erfreut hatte - nichts - nichts mehr - alles leer - alles dunkel.
    Es war ihr, als ob auch sie im Dunkeln, im Leeren taste. Nur einen Gedanken vermochte sie zu fassen: Du mußt zu ihnen. Gleich - sofort! Du mußt den Großpapa stützen, dem Ärmsten sein schweres Schicksal tragen helfen, ihm, wenn es möglich ist, seine Dunkelheit zu erhellen suchen. Zur Großmama mußte sie - da war es wieder mit ihrem Denken zu Ende. Lautloses Schluchzen schüttelte den zarten Mädchenkörper. Drüben von der Tenne her klangen lustige Weisen. Da tanzte der Gutsherr mit der Großmagd und Frau Lising mit dem Großknecht den ersten Walzer. Da drehten

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