Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
sich Mining und Stining, Lowising und Mariken mit Jochen und Krischan, mit Korl und Johann. Da sprangen die Gören wie Böcklein und Zicklein munter mit Jauchzen und Kreischen dazwischen.
Marietta versuchte die Tränenflut zu dämmen, weiterzulesen: »Es wird Dich, mein Liebling, so jäh und unbarmherzig treffen, wie es uns traf. Und ich kann Dich nicht schonen. Aber wir siedeln bereits morgen in die Augenklinik von Professor Haase über. Er will sogleich operieren. Großpapa hat das größte Zutrauen zu seiner Kunst - aber, ich darf es Dir nicht verhehlen, er hat mir nicht volle Hoffnung machen können. Der Ausgang ist zweifelhaft. Trotzdem müssen wir tun, was nur irgend noch helfen kann. Großpapa ist ruhig und gefaßt. Er tröstet mich noch. Denn ich muß zu meiner Schande gestehen: Diesmal versage ich. So hat mich noch nichts getroffen. Verzeih mir, mein Liebling, daß ich Dir so das Herz zerreiße. Deine alte Großmutter ist diesmal egoistisch. Ich mußte es mir von der Seele schreiben. Einem Menschen muß ich es sagen. Und Du bist mir der nächste. Selbstverständlich bleibst Du ruhig dort. Du kannst hier nicht helfen. Großpapa braucht die größte Ruhe. Ich selbst bin nur für ihn da. Und dort hast Du übernommene Pflichten. In unserem Fühlen, in unserem Schmerz sind wir ja doch vereint. Gebe der Himmel, daß ich bald Besseres melden kann. Und wenn es nicht sein soll, gebe er uns die Kraft, es zu tragen. Leb wohl, Seelchen. Deine Großmama.« Aus der Ferne selbst half die Großmama, dachte an Mariettas nächste Pflicht. »Hoch sollen sie leben - hoch sollen sie leben - dreimal hoch!« schrillte es vom Festplatz herüber. Dort brachte man ein Hoch auf die Gutsherrschaft aus. Marietta hielt sich die Ohren zu. Sie konnte sich nicht wieder unter die fröhliche Menge mischen, sie war heute nicht mehr imstande dazu. Auch mochte sie die Festfreude nicht stören. Die Verwandten erfuhren morgen früh genug noch das Entsetzliche. Fräulein Wohlgemut, die mit den Grotgenheidern zum Erntefest geladen war, würde sie vertreten, wenn sie sich wegen Kopfschmerzen zurückzog. Tatsächlich, in ihren Schläfen hämmerte es, die furchtbare Aufregung knickte ihr die Beine weg. Als sie sich erhob, mußte sie sich an dem Tisch festhalten.
»Tante Jetta - Tante Jetta, wo bist du?« Das war Lenchens Stimme. Ganz nahe klang sie schon. Marietta hatte gerade noch Zeit, den Brief in ihre Tasche gleiten zu lassen, da war sie entdeckt. Lenchen stand mit heißen Backen vor ihr. Gleich darauf erschien auch Lotte. »Tante Jetta, komm doch zum Erntetanz. Es ist so fein.« Das Kind wollte sie mit fortziehen.
Aber Lotte, die ältere, verständigere, sah, daß da nicht alles in Ordnung war. »Fräulein Jetta, sind Sie nicht wohl? Sie sehen so blaß aus. Haben Sie geweint?« Erschreckt schaute Lotte drein.
»Nein, Lottchen, ich habe nur heftige Kopfschmerzen. Das Beste wird sein, wenn ich mich hinlege. Ich lasse Fräulein Wohlgemut bitten, sich unserer Kinder anzunehmen. Und du selbst, Lottchen, du bist ja ein vernünftiges Mädel. Du sorgst gewiß dafür, daß alles in Ordnung zugeht.«
»Freilich, Fräulein Jetta, seien Sie nur ganz unbesorgt. Ich will schon aufpassen. Soll ich Ihnen nicht ein Glas Zitronenlimonade bringen. O Gott, eiskalte Hände haben Sie bei der Hitze. Daß Sie auch gerade beim Erntefest Kopfschmerzen kriegen mußten!« Lottchen war wie ein Erwachsener um ihr liebes Fräulein Jetta besorgt. Von beiden Kindern sorgsam geführt, erreichte Marietta unbemerkt ihr Zimmer. Es lag nach der Gartenseite heraus. Nur gedämpft klang die Musik bis hierher. Den Kopf in die Kissen vergraben, nichts mehr hören, nichts mehr sehen. Aber Marietta konnte es trotzdem nicht hindern, daß vor ihrem inneren Auge Bild um Bild filmartig abrollte. Der Großpapa, tastend im Dunkeln - die Großmama, das liebe heitere Antlitz voller Verzweiflung - das Operationszimmer ... da fuhr sie plötzlich wieder hoch.
Vier Uhr nachmittags - ein Telegramm konnte bereits auf der Bahnpost liegen. Aber ob es überhaupt heute noch zugestellt wurde? Der alte Landbriefträger war unterwegs. Jochen, der sonst die Abendpost holte, fuhr heute des Erntefestes wegen nicht zur Bahn. Sie mußte hin telefonieren, ob ein Telegramm für sie dort lag. Nein - es war noch nichts eingetroffen. Jawohl, man würde ihr ein Telegramm sofort hinausschicken. Marietta versuchte aufs neue, die Augen zu schließen. Aber sie fand vor den sie bedrängenden Bildern keine Ruhe. Wieder
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