Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
sprang sie auf. Sie hielt diese Untätigkeit, dieses Warten nicht aus. Lieber sich unter die Fröhlichen mischen, sich Zwang auferlegen müssen. Nur nicht mehr denken. Lenchen kam ihr jubelnd entgegengesprungen. »Tante Jetta, wie schön, daß du wieder gesund bist.«
Lottchen streichelte zärtlich ihren Arm. »Sie hätten ruhig noch liegenbleiben sollen, Fräulein Jetta, ich passe schon auf die Gören auf«, meinte sie mit stolzer Wichtigkeit. Großvating und Großmutting hatten sich unter ihren Nußbaum zurückgezogen, Großvating mit seiner geliebten Pfeife, Großmutting mit ihrem Brief. Den las sie nun schon zum soundsovielten Male. Auf dem Festplatz war den alten Herrschaften doch zuviel Trubel, da die Lütten heute wie außer Rand und Band waren. Jettas Anwesenheit dämpfte ein wenig das allzu laute Kreischen und Johlen der Kinder. »Tante Jetta hat Kopfweh, ihr dürft nicht solchen Radau machen«, verkündete Lottchen besorgt. Und wirklich, auch die wildesten Buben dämmten ihre Ausgelassenheit Tante Jetta zuliebe ein wenig, wenigstens - solange sie daran dachten.
Der Gutsherr Peter trat auf Marietta zu. »Darf ich Donna Tavares zu einem Tanz ...« da unterbrach er sich erschreckt »Dirn, Jetta, was ist passiert? Du siehst ja ganz verstört aus!«
»Nichts, Peter, ich habe nur etwas Kopfschmerzen«, gab Marietta ausweichend zur Antwort, um seine Feststimmung nicht zu beeinträchtigen.
»Dann mach, daß du hier aus dem Radau rauskommst, Kind. Setz dich zu Vating und Mutting unter den Nußbaum. Da hast du Ruhe«, schlug ihr der Vetter freundlich besorgt vor.
Marietta befolgte seinen Rat. Sie hatte sich doch zuviel zugemutet. Unter dem Nußbaum hatte sich inzwischen noch ein Gast eingefunden, Tante Marlene aus Grotgenheide. Auch ihr stand der Sinn nicht nach lauter Fröhlichkeit. Das Grotgenheider Erntefest würde weniger freudig ausfallen. Ein großer Teil des Getreides war bereits auf dem Halm verkauft.
»Jetta«, rief Großmutting Ilse der sich langsam Nähernden lebhaft zu, »Kind, was sagst du zu dem Brief?«
»Zu dem Brief?« wiederholte Marietta tonlos. Es gab für sie heute nur einen Brief. »Ja, der Brief aus Amerika von unserm Jung. Hast ihn wohl noch gar nicht gelesen, Jetta? Ja, freilich, junges Volk will tanzen. Also hör zu, Dirn.« Das ließ sich die Mutter nicht nehmen, den Brief ihres Sohnes selbst vorzulesen.
»Meine lieben Eltern und Großeltern! Das wird der letzte Brief vom anderen Erdteil. Ich habe genug von Amerika. Inmitten des rasenden Geschäftstrubels, mitten in der elegantesten Geselligkeit war ich einsamer als auf unsern Dünen. Ich sehne mich nach unserm guten Heimatwind, nach dem kräftigen Erdgeruch unserer Scholle. Nach unserm Nußbaum und all denen, die darunter sitzen. Milton Tavares hat es mir freigestellt, seine in New York begründete Filiale, die sich gut eingeführt hat, zu leiten oder in Deutschland, Berlin oder Hamburg, eine Zweigstelle für den Import nach Europa ins Leben zu rufen. Ich habe nicht geschwankt. Meinen Fahrschein für das nächste nach Europa gehende Schiff habe ich bereits. Ende September werde ich in Genua landen. Von dort sind es nur noch Stunden bis zu Euch. Hoffentlich sehe ich Euch ...«
»Der Postbote - da - da kommt er!« Marietta, die sonst für die Briefe aus Amerika von Brauns Jüngstem größtes Interesse hatte, vermochte heute kaum den Sinn zu erfassen. Mitten im Satz sprang sie auf und jagte die Kirschallee hinunter. Dort war ein Radler aufgetaucht, den ihr scharfes Auge als Postboten erkannte. Da hielt sie auch schon das ebenso sehnlichst erwartete wie gefürchtete Telegramm in Händen. Einen Augenblick zauderte sie - sie war zu feige, es aufzureißen.
Die Buchstaben tanzten vor ihren Blicken. Schließlich entzifferte sie: »Operation gut verlaufen. Erfolg bleibt abzuwarten. Gruß Großmama.«
An einem Kirschbäumchen lehnte Marietta und versuchte sich den Inhalt des Telegramms klarzumachen. Die Operation war vorüber - Gott sei Dank! Das war immerhin für die Großmama eine Befreiung aus herzbeklemmender Besorgnis.
»Erfolg bleibt abzuwarten« - eigentlich war also alles noch wie zuvor. Aber ein Hoffnungsfünkchen war doch wenigstens entfacht, es konnte doch jetzt wieder besser werden.
Ein Schatten fiel auf den Sonnenweg. Tante Marlene stand vor Marietta. Gütig faßte sie nach Mariettas zitternder Hand.
»Kind, was ist? Eine schlechte Nachricht? Du schienst schon vorhin unter dem Nußbaum verändert. Sprich dich aus, Jetta.«
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