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Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar

Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar

Titel: Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Else Ury
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Reise«, wiederaufzunehmen. »Ich bitt' dich halt, Weible, begleite das Kind, das Mariele, nach Genua hinunter«, unterbrach Geheimrat Hartenstein die Stille. »Bist doch erst ruhig, wenn du sie dort persönlich bei den Verwandten ihres Vaters abgeliefert hast. Und den Jungen, den Horst, kannst gleich dabei feierlich abholen.«
    Genua - das Meer - die Riviera ... lockende Bilder stiegen vor Frau Annemaries Blick auf und - versanken sofort wieder. Ihre Augen suchten das schmale, noch immer bleiche Gesicht ihres Mannes - nein, unmöglich, ihn zu verlassen.
    »Du scherzest nur, Rudi, denn im Ernst kannst du doch nicht daran denken. Ich sollte dich jetzt allein lassen - dazu waren die letzten Wochen zu schwer. Ich könnte die neuen Natur- und Kunsteindrücke doch nicht genießen. Du wirst mich nicht mehr los für den Rest unseres Lebens, mein guter Alter.« Es sollte scherzhaft klingen, und doch - heiliger Ernst waren Frau Annemaries Worte, ein festes Gelübde.
    Wortlos griff der alte Herr nach der weichen Frauenhand. Still zog er sie an die Lippen. Galanterie war niemals Rudolf Hartensteins Art gewesen, und auch jetzt war dieser Handkuß nur der Ausdruck inniger Dankbarkeit. Still saßen sie beide, die alten Leutchen, blickten über die tiefblaue Wasserfläche, auf die sich sonst rosenrot färbenden Schneekuppen, bis Frau Annemarie in die Ferne wies: »Man merkt, daß die Tage kürzer werden. Daran erkennt man den nahenden Herbst. Komm, Rudi, ich führe dich ins Haus. Sobald die Sonne hinunter ist, wird es kühl. Und du sollst dich vor Erkältungen schützen.«
    Vorsorglich legte Frau Annemarie das auf die Banklehne geglittene Plaid um die Schultern ihres Mannes und griff nach seinem Arm. Die verflossenen Leidenswochen hatten ihn unbeholfen gemacht. Er hatte sich daran gewöhnt, sich führen zu lassen, sich auf den Arm seiner Frau zu stützen. Auch später, als er sein Augenlicht wiedererlangte, war eine Schwäche, eine Unselbständigkeit der Bewegungen zurückgeblieben. Langsam schritten sie unter Palmen, Olivenbäumen, Pinien und Zypressen, unter Orangen- und Zitronenlaubgängen dem Hause zu. Das Parkhotel, ein ehemaliger Palazzo mit Bogengängen und Steingalerien, empfing sie licht und wohnlich. Aber kaum hatte Frau Annemarie es ihrem Mann im Lehnsessel bequem gemacht und die Berliner Zeitung zum Vorlesen bereitgelegt, als sie auch schon wieder unruhig nach der Tür blickte. »Weißt du, Rudi, ich möchte ganz schnell zur Dampferanlegestelle hinunter. Die Zeitung läuft uns ja nicht fort. Und das Kind ...«
    »' Mariele läuft auch nit fort. Das findet den Weg zum Hotel auch ohne dich. Aber nur zu, Fraule! Eher hast ja nimmer Ruh' zur Zeitung. Ich halt' ganz gern für mich Dämmerstündle. Wie soll das nur werden, wenn's Mariele uns in einigen Tagen auf und davon geht nach Genua?«
    Ja - wie sollte das nur werden? Das fragte Frau Annemarie sich selbst, als sie jetzt die weiße Landstraße entlang den in der Bucht an steilabfallender Felswand angeklebten Häusern Rivas zuschritt. Es war kein Opfer für sie, auf Italien zu verzichten - o nein - aber das Kind, die Jetta, allein in die Welt hinauszuschicken, das bedeutete ihr ein Opfer. Und doch - sie mußte lernen, die Enkelin allein ihren Weg gehen zu lassen. Gegen ihren Vorsatz schloß die Großmama die nur für die Nachmittagsstunden mit einigen Hotelgästen fern gewesene Enkelin so erfreut in die Arme, als ob diese zum zweiten Male aus Brasilien einträfe.
    »Wie hübsch, Großmuttchen, daß du am Dampfer bist! Es war ein herrlicher Nachmittag. Ihr müßt Torbole sehen. Wir können ja einen Wagen nehmen, wenn der Weg für Großpapa zu anstrengend ist. Torbole ist sehr malerisch. Ein idyllischer Fischerort ohne Fremdenverkehr. Der Durchblick am Goethebrunnen durch den Torbogen auf den blauen See mit seinen Fischerbooten ist entzückend.« Ganz lebhaft war Marietta bei ihrer Schilderung geworden. Was das Kind für rosige Farbe bekommen hatte. Tat aber auch wirklich not, denn eine Erholung war Marietta der Aufenthalt an der Waterkant infolge der seelischen Belastung nicht gewesen. Erst daheim in Licherfelde, als sie den Großvater zwar noch geschwächt und hilflos, aber voll innerer Ruhe und Freudigkeit über das wiedererlangte Augenlicht, die Großmama voll glückseliger Dankbarkeit sah, beruhigte sich Mariettas aufgewühltes Nervensystem. Sie genoß jetzt ihren Urlaub, der sich mit den anschließenden Oktoberferien auf sechs Wochen erstreckte. Die Hälfte davon war

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