Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
für den Gardasee in Gemeinschaft mit den Großeltern festgelegt worden. Die zweite Hälfte sollte sie in Genua bei einer Tante väterlicherseits zubringen. Die italienischen Verwandten hatten ihren Sommersitz in dem unweit von Genua gelegenen St. Margherita an der Ligurischen Küste. Dort würde sie Meer und Gebirge, südländische Natur sowohl wie die Schönheit und die Kunst Genuas genießen können.
Die Tage flogen dahin. Frau Annemarie hätte sie gern festgehalten. Es schien ihr die schönste Zeit ihres Lebens zusammen mit dem genesenden Gatten und ihrem Herzblatt Marietta in dieser herrlichen Umgebung.
Aber schließlich rückte der Tag doch heran, da der Dampfer ihr den Liebling entführte.
Bis Gardone gaben die Großeltern der Enkelin das Geleit. In Mailand wollte sie Signor Sanini, der Schwager von Mariettas Großmutter Tavares, in Empfang nehmen.
»Jetta, sobald du in Mailand eingetroffen bist, telegrafierst du. Vergiß es nur nicht, Seelchen. Und jeden Tag eine Postkarte, mehr verlange ich nicht ...«
»Ist halt schon mehr als zuviel«, lachte ihr Mann sie aus. »Sag auch dem Jungen, dem Horst, ein herzliches Grüß' Gott in der Heimat von uns!« rief der Großvater nach, während Marietta von dem sich vom Ufer entfernenden Schiff Grüße zurückwinkte.
»Besser auf drei Wochen nach Genua, als für ein ganzes Leben nach Brasilien«, tröstete Frau Annemarie sich selbst.
Marietta stand an der äußersten Spitze des Dampfers, schaute in das unergründliche blaue Wasser, in den tiefblauen, sich darüber wölbenden Himmel. Es war ihr zumute wie einem Vogel, der die Schwingen ausbreitet in unermeßliche, unbegrenzte Weiten. Und dann saß sie in einem Abteil erster Klasse des von Venedig kommenden Schnellzuges via Milano, und eine ziemlich eintönige graue Landschaft mit verstaubten Olivenbäumen, ab und zu von einem dunklen Pinienfleck belebt, flog an ihr vorüber. Das also war das gelobte Land Italia. Dem von Farbenfreudigkeit verwöhnten Auge des Tropenkindes erschien es grau und nüchtern. Aber dann Mailand. Der Großonkel, der gerade geschäftlich in Milano zu tun hatte, nahm Marietta in Empfang. Ein eleganter, alter Herr mit schwarzen, noch immer feurigen Augen unter dem weißbuschigen Haar. Das war Signor Enrico Sanini. Er war überrascht und entzückt von der lieblichen Schönheit seiner jungen Verwandten. Er überschüttete sie mit liebenswürdiger Ritterlichkeit und war begeistert, daß sie die italienische Sprache so gut beherrschte. Ja, die nonna, die Großmama, Signora Tavares, war als junges Mädchen eine gefeierte Schönheit in Genua gewesen. Die Augen hatte Marietta sicher von ihr. Nur sprühender, lebhafter hatte er die schwarzen Augen seiner Schwägerin in Erinnerung. Marietta, von der Eisenbahnfahrt ein wenig abgespannt, wurde es bei dem Wortschwall, der sich da in galanter Weise über sie ergoß, ganz taumelig zumute. Sie fand erst wieder zu sich selbst zurück, als sie vor dem Mailänder Dom stand. Ah - da war sie mit einem Schlage dem vorüberflutenden Menschengetriebe, den mit lautem Hupen vorbeirasenden Autos, der Redeflut ihres Begleiters entrückt. Wie auf einer Insel stand sie allein diesem gewaltigen Bauwerk gegenüber. Märchenhaft, ganz unwirklich geisterten die weißen Steinfiligran-Türme in der Abenddämmerung. Wie ein zartes Spitzenmuster standen sie gegen den lichtgrünen Abendhimmel. Höher, immer höher - diese wunderbare Gotik zog einen mit empor, bis in die nadelscharfen Türmchen, bis in die feinsten Spitzen des großartigen Kunstwerks. Marietta fühlte sich erhoben, emporgetragen - zum dritten Male mußte der Großonkel seine Aufforderung, mit ihm im Cafe eine Schale gelato zu nehmen, wiederholen. Eis essen - wie konnte man jetzt daran denken, wo ein so überwältigendes Architekturwerk zu einem Erlebnis für alle Zeiten wurde.
Signor Sanini sagte der Mailänder Dom nichts mehr. Er war ihn gewöhnt wie die Säulenhöfe mit umlaufenden Galerien in den altitalienischen Häusern, von denen seine junge Begleiterin auf dem Wege gefesselt worden war. Ihn verlangte es an dem heißen Tage nach einem gelato, nach Musik und vorüberziehenden Menschen. Verdi-Musik - glutäugige Italienerinnen, lebhaft diskutierende Jünglinge mit langem, schwarzem Haarschopf, Fremde in Reisekleidern, den roten Baedecker in der Hand, Namen von Geschäftsfreunden des Onkels, die bewundernde Blicke auf die schöne Fremde warfen, alles das zog wie auf einer Bühne, bei der sie selbst nur
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