Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
ihrem Liebling ausstreckten. Weinende Kinder, deren Vater unter dem Grabdenkmal ruhte, umdrängten die händeringende Mutter. Hier brachte ein Mägdlein im Steinschürzlein dem Verstorbenen frische Blumen dar. »Findest du die Grabkunst schön, Jetta?« fragte Horst kopfschüttelnd. »Nein, sie wirkt theatralisch. Wie kann man seinen Schmerz so vor aller Welt zur Schau stellen. Wer seine Toten im Herzen hat, bedarf keines Bildes von ihnen zur Erinnerung«, sagte Marietta leise. Wie warm, wie tief empfunden das klang. Sie waren hinausgetreten auf den Friedhof. Es hatte aufgehört zu regnen. Aber die Luft stand immer noch schwer und bleiern. Merkwürdig, keine Grabhügel. Zu ebener Erde, von Rabatten eingefriedet, die blumengeschmückten Gräber.
»Sieh dort, Jetta, dort unter der großen Pinie - ein sonderbarer Leidtragender!«
Da lag in Stein gemeißelt der Hund des Verstorbenen auf dem Grabe, mit gesenkten Ohren und hängendem Schwanz.
»Vielleicht der treueste von seinen Freunden«, meinte Marietta nachdenklich. »Die Bäckerfrau müssen wir noch sehen, Jetta. Es soll das eigenartigste Grabdenkmal hier sein. Sie hat sich ihr ganzes Leben lang geplagt und sich nichts gegönnt, nur um nach ihrem Tode hier mal ein schönes Denkmal zu bekommen. Mit ihren Kuchenkörben in der Hand, so hat man sie hier verewigt, erzählte mir ein Herr im Hotel.« Aber die Bäckerfrau wollte sich nicht finden lassen. »Komm, Jetta, wir wollen zu dem Tempel dort oben hinauf, von dort hat man den besten Ausblick.« Malerisch zog sich der Friedhof den Berghang hinauf. Es war immer noch bedrückend schwül. Steil, unbeweglich und düster standen die Zypressen in dem schwefelgelben Licht. Da - wieder ein Rollen und Donnern wie vorhin, nur stärker, anhaltender - kam es aus den Lüften? - aus der Erde? Barmherziger - Marietta schwankte - der Erdboden unter ihnen hatte sich bewegt. Nein, es war keine Täuschung. Die Zypressen und Palmen vor ihnen erschauerten bis in ihre Wurzel hinein. Die großen Bäume schwankten, als wären sie aus einer Spielzeugschachtel. Dort der steinerne Sensenmann auf dem Grabe vor ihnen bewegte sich, er kam auf sie zu. All die weißen Marmorgestalten schienen plötzlich lebendig, sie tanzten auf den Gräbern, alles schwankte – alles ...
Marietta sah nichts mehr. Sie fühlte nur noch, daß ein starker Arm sich stützend um sie legte, sie fortriß von den neben ihr wankenden Tempelsäulen. Horsts beruhigende Worte verschlang ein neuer donnernder Erdstoß - sekundenlang, und doch eine Ewigkeit. In den Lüften begann es zu heulen, als ob alle Geister der Luft und der Erde plötzlich entfesselt wären. Wirbelwind trieb Wolken und Staub vor sich her. Selbst Horst, der Hüne, hatte Mühe, sich aufrecht zu halten. Marietta hatte nur das eine Gefühl: »Wir sterben zusammen.«
»Jetta, liebe Jetta, das Erdbeben ist vorüber. Armes Kind, wie bleich du bist! Du bebst ja stärker als die Erde. Du kannst die Augen wieder öffnen, Jetta.«
Wie beruhigend, wie liebevoll seine Stimme klang. Nein, sie machte die Augen nicht wieder auf. Sie hatte trotz der furchtbaren Erschütterung ein Gefühl des Geborgenseins in seinen Armen - ach, wenn sie doch die Augen niemals wieder zu öffnen brauchte. Da vernahm sie wieder seine Stimme, inniger noch: »Jetta, ich hab' dich so lieb.« Marietta brachte keinen Ton über die erblaßten Lippen.
»Terremoto - terremoto - Erdbeben - Erdbeben!« Erregte Stimmen - bleiche Gesichter - entsetzte Augen.
»Wir wollen zurück, Jetta. Komm.« Sanft griff Horst nach dem Arm der Versunkenen. Da nickte Marietta stumm.
Goldene Abendsonne
Die alte Linde in Geheimrats Rosengarten steht in goldenem Blätterschmuck. Septembersonne wirft Strahlenbüschel durch das Geäst, als sei es über und über mit Goldblüten behangen. In den Zweigen der alten Linde zwitschert und jubiliert das heute, als ob der lachende Frühling vor den Toren stände und nicht würdevoller Herbst. Die Finkenfamilie, die in der Linde seit Jahren ihr Quartier aufgeschlagen hat, fühlt sich heute als Hauskapelle. Sie schlagen und jubeln, all die Finklein, daß eine verschlafene Spätrose ganz erstaunt die Samtaugen aufschlägt. Schwalben durchschneiden, sich schon zur Winterreise sammelnd, die klare Herbstluft. Sie halten im Bogenflug inne. Nanu, was ist denn heute da unten im Rosengarten los? Alle Blüten des Spätsommers haben ihre Kelche weit geöffnet in ganz besonderer Farbenfreudigkeit. Schmetterlinge, die letzten des Jahres,
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