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Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar

Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar

Titel: Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Else Ury
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flattern gegen die Fenster des Rosenhauses. Aber sie verraten nichts von dem, was sie dort erspähen.
    An dem Fenster des Biedermeierzimmers steht eine alte Frau, weißhaarig, mit merkwürdig jung leuchtenden Augen. Still versonnen blickt sie in den goldenen Herbsttag. Fünfzig Jahre - fünfzigmal hat sie die Linde dort drüben in ihrem Goldkleid geschaut. Ist es denkbar, daß sie das ist, sie, Doktor Brauns einstiges goldlockiges Nesthäkchen, die heute ihre goldene Hochzeit feiert? Ist es ihr nicht, als wäre es gestern, allenfalls vorgestern, da sie als junge, glückliche Frau hier mit ihrem Mann sich das Nest gebaut hat? Fünfzig Jahre - Frau Annemarie schüttelt lächelnd den weißen Kopf. Wo sind sie geblieben?
    Die Tür geht. Sie achtet nicht darauf. Ihre Gedanken weilen in der Vergangenheit. Erst als sich ihr ein Arm um die Schulter legt, kehrt sie zur Gegenwart zurück.
    »Nun, meine gute Alte, da wären wir halt soweit. Annemie, Fraule, daß wir diesen Tag gesund miteinander begehen können, das ist halt eine Gnade, die nur wenigen zuteil wird.« Er pflegt sonst nicht mehr viel Worte zu machen, der alte Herr.
    Frau Annemarie streicht sanft über das Gesicht ihres Mannes, rückt ihm gleich dabei die etwas schiefsitzende weiße Krawatte zurecht.
    »Wir können zufrieden sein, Rudi, denke ich. Wenn du auch manchmal ein bißchen geknurrt und gebullert hast. Im Grunde haben wir doch immer nur dasselbe gewollt, das Glück des andern. Der Himmel gebe, daß unser Kind, unsere Jetta, einmal so zurückblicken kann, mit derselben dankbaren Befriedigung, wie wir es heute tun.« Droben, gerade über Großmamas Biedermeierzimmer, nimmt Marietta Abschied von ihren Mädchentagen. Sie schaut sich in dem lieben Raum, der ihr zehn Jahre lang Heimat geworden war, mit feuchten Augen um. Hier ist sie glücklich gewesen, umsorgt von der Liebe der Großeltern, befriedigt durch Arbeit, Streben und Pflichterfüllung. Heute zweigt ein anderer Weg, als der bisher gegangene, ab. Eine neue Straße liegt vor ihr, sonnenhell in unbekanntes Zukunftsland führend. Wie wird die Wanderung sein? Marietta zagt nicht - sie hat einen guten Weggenossen, eine feste Stütze zur Seite, wenn der Pfad auch einmal mühevoll werden sollte. Das Band, das unter Italiens blauem Himmel sich geschürzt, ist in vier Jahren erstarkt und gefestigt. Reife Menschen sind es, die heute den Lebensbund miteinander eingehen. Er hat ihr Zeit gelassen, sich und ihn zu prüfen. Zeit gelassen, auch ihre soziale Arbeit zu vollenden. Mariettas Kinderheim in Grotgenheide beherbergt seit dem Frühling zahlreiche kleine Gäste. Gerda Ebert hat ihr ganzes Organisationstalent eingesetzt, um in Gemeinschaft mit Marietta alle Schwierigkeiten, die bei der Inbetriebsetzung eines großen Unternehmens nicht ausbleiben, zu überwinden. Sie ist die Oberin des neuen »Nesthäkchen-Heim«, das die Großmutter so getauft hat. Gerda zur Seite arbeitet sich die nun bald zwanzigjährige Lotte in den sozialen Wirkungskreis ein. Für den wirtschaftlichen Betrieb hat Marietta Lottes Tante, Frau Neumann, eingesetzt. Großmutter Liebig und Lenchen haben ebenfalls in Grotgenheide eine neue Heimat gefunden. Wenn nur die Trennung von dem lieben Rosenhaus nicht wäre! Aber sie geht ja nicht weit fort, sie bleibt ja in der Nähe. Der gute Horst hat ihre Wünsche erraten und hier draußen in Lichterfelde ein kleines Landhaus erworben. Wie ganz anders mußte ihrer Mutter damals zumute gewesen sein, als sie von diesem Raum Abschied nahm.
    »Jetta, Kind - die Gäste versammeln sich bereits. Horst kann jeden Augenblick da sein. Und seine Braut steht hier und denkt sicherlich über irgendein soziales Problem nach, anstatt das Brautgewand anzulegen«, schilt Frau Ursel lachend durch die geöffnete Tür. »Warte, ich helfe dir, mein Herz.« Frau Ursel hat bereits das Festkleid an. Donna Tavares ist immer noch eine wunderschöne Frau. Kein Silberfaden schimmert in dem Goldton des Haares, obgleich sie seit drei Jahren zur Großmutter avanciert ist.
    Liebevoll ordnet sie den weißen, duftigen Schleier auf dem goldbraunen Haar des geliebten Kindes. Nein, das überläßt sie keinem Fremden.
    Marietta zieht der Mutter Hand an ihre Lippen. »Mammi, meine kleine Mammi«, sagt sie zärtlich. »Wie schön, daß du heute da bist. Daß ihr alle gekommen seid.« Und dann bittend: »Ich möchte noch hinunter zur Großmama, bevor Horst kommt.« Noch einen Abschiedsblick: »Leb wohl, du liebes Zimmer!« Dann schließt sich die

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