Nestor Burma in der Klemme
Passanten wider. Ein Zug
pfiff durch die Nacht.
Plötzlich riß mich das Telefon aus meinen
Träumereien. Ich sah auf die Uhr: halb elf.
„Hallo!“ meldete ich mich.
„Monsieur Burma?“
„Am Apparat. Was wollen Sie?“
Die Stimme stellte sich vor. Völlig überflüssig.
Ich hatte Lydia Verbois sofort erkannt. Auf alles war ich gefaßt gewesen, nur
darauf nicht.
„Ich würde gerne mit Ihnen reden“, begann das
Mädchen.
„Nur zu!“
„Nicht am Telefon. Bei Ihnen zu Hause.“
„Um diese Zeit?“
„Um diese Zeit, ja.“
„Wir haben die Rollen vertauscht“, stellte ich lachend
fest. „Jetzt laufen Sie hinter mir her. Aber wie zum Teufel sind Sie an meine
Privatadresse und Telefonnummer gekommen?“
„Es gibt Telefonbücher.“
„Ach ja, hatte ich ganz vergessen. Also, Sie
wollen mich unbedingt besuchen?“
„Ja.“
„Aber Sie sind doch bis jetzt immer vor mir
weggelaufen!“
„Kann ich nun kommen oder nicht?“ fragte sie
ungeduldig. „Kommen Sie! Die Haustür ist geschlossen, aber wenn Sie klingeln,
öffne ich Ihnen.“
Ich sprang aus dem Bett und zog mich wieder an.
Dann stellte ich ein Fläschchen Rum und zwei Gläser auf ein Tablett, setzte
mich daneben und wartete. Um elf Uhr schaltete mein Nachbar das Radio aus. Ich
hatte langsam das Gefühl, daß die schöne Lydia mich mal wieder reingelegt
hatte. Fünf Minuten später hatte ich ein ganz anderes Gefühl. Ich fing an, mir
Sorgen zu machen.
Endlich klingelte es. Ich ging hinunter und
öffnete die Tür. Meine Gefühle — beide — waren falsch gewesen. Die junge Frau,
die draußen auf der diesigen Straße stand, war Lydia Verbois... gesund und
munter.
„Erschöpft?“ fragte ich, als sie beinahe auf der
Treppe stolperte.
„Sie wohnen aber auch am Ende der Welt“,
antwortete sie. „Legen Sie Ihren Mantel ab, nehmen Sie den Sessel dort und
setzen Sie sich nahe an den Ofen“, sagte ich, als wir in meiner Wohnung waren.
„Einen Schluck Rum?“
„Gerne.“
„Von wo aus haben Sie mich eigentlich angerufen?
Die Bistros haben alle geschlossen.“
„Von einer Freundin aus.“
„Weit weg von hier?“
„Genau vierzig Minuten. Zu Fuß.“
„Wissen Sie, wie spät es ist?“
„Ja.“
„Haben Sie seinen Passierschein?“
„Nein.“
„Dann sind Sie bis morgen früh um fünf meine
Gefangene. Haben Sie keine Angst?“
„Ich möchte mit Ihnen reden.“
„Sie sind ein kleiner Dickkopf. Wenn Sie nicht
reden wollen, ist aus Ihnen nichts rauszukriegen. Und wenn Sie reden wollen,
scheren Sie sich einen Dreck um Konventionen.“
Sie lehnte sich zurück. Ihr Haar leuchtete auf
der ledernen Sessellehne.
„Ich kann nicht mehr“, flüsterte sie. „Ich muß
mit Ihnen reden... dringend! Ich fühle mich von allen Seiten bedroht.“
„Nur zu, fangen Sie an!“ sagte ich ermunternd
und beugte mich näher zu ihr.
Sie nippte an ihrem Glas, wie um sich Mut
anzutrinken. „Monsieur Burma“, begann sie schließlich, „ich weiß nicht, welche
Rolle Sie in dieser Geschichte spielen. Aber ich habe Vertrauen zu Ihnen. Ich
befinde mich in einer schwierigen Lage..... .Das mit dem Haus am Boulevard
Victor war gelogen. Ich habe die beiden Eingänge nicht als Abkürzung benutzt.
Wie Sie schon vermutet haben, kam ich aus Bartons Wohnung. Ich hatte eine
Verabredung mit ihm.“
„Mit Barton oder mit Briancourt?“
„Macht das einen Unterschied?“
„Einen gewaltigen sogar! Wenn Sie mit Barton
verabredet waren, dann kannten Sie ihn schon seit langem. Briancourt dagegen
könnten Sie erst seit kurzem gekannt haben.“
„Ich war mit Barton verabredet.“
„Dann wußten Sie also, mit wem Sie’s zu tun
hatten?“
„Er war mein Schwager. Die Frau auf dem Foto,
das Sie mir heute nachmittag gezeigt haben, ist meine Schwester...“
„...in Begleitung von Henri Barton...“
»Ja.“
„Fahren Sie fort.“
„Jeanne — meine Schwester — hatte sich in Barton
verliebt, ohne zu wissen, wer er war. Als sie erfuhr, daß er kriminell war...
Es war ein furchtbarer Schlag für sie. Nach seiner Verurteilung hat sie sich
sofort von ihm scheiden lassen und... und ein neues Leben begonnen. Sie ist mit
einem ehrenhaften Mann verheiratet, von dem sie ein Kind hat. Sie lebt in der
Provinz... als geachtete Frau.“
„Verstehe. Es wäre für sie höchst unangenehm
gewesen, Barton wieder über den Weg zu laufen.“
„Ja. Aber genau das hatte er vor, der Schuft!
Ich weiß nicht, seit wann er in Paris war und wie er aus dem Gefängnis
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