Nestor Burma in der Klemme
Ich rufe die Polizei!“
Ihr Ton war verzweifelt und aggressiv zugleich.
Wie um sich an ihren eigenen Worten zu berauschen, hatte sie ihre Tirade
losgelassen. So ähnlich wie Angsthasen, die im Dunkeln laut singen oder
pfeifen. Aber trotz ihrer Panik lag in ihren Augen wilde Entschlossenheit. Sie
war imstande und machte ihre Drohung wahr!
„Ich kann Sie nicht zurückhalten“, sagte ich,
„aber ich warne Sie, Mademoiselle Verbois: Noch habe ich nicht alle meine
Fragen gestellt! Lassen Sie mir noch etwas Zeit, und Sie werden merken, daß ich
‘ne Menge weiß. Aber wenn Sie nicht wollen... Ich kann Sie nicht zwingen! Also,
wir sehen uns wieder, und dann reden wir weiter. Es wird interessanter, als Sie
denken.“
„Wenn Sie sich da nicht mal täuschen“, gab sie
zurück. „Ich habe Ihnen bereits alles gesagt.“
„Sie haben mir überhaupt nichts gesagt“,
ereiferte ich mich. „Aber das macht nichts. Als kleiner Junge habe ich viele
Indianergeschichten gelesen und mir die Philosophie der Rothäute angeeignet:
Ich kann warten!“
Lydia Verbois verließ die Agentur. Als ich die
Eingangstür ins Schloß fallen hörte, ging ich hinüber zu Hélène und wusch ihr
den Kopf wegen ihres Verhalten gegenüber dem Mädchen. Sie solle sich gefälligst
zurückhalten, denn...
„...ohne ihre nette Art, die der Kleinen das
Selbstvertrauen wiedergegeben hat, hätte sie weniger gelogen. Davon bin ich
überzeugt!“
„Sie lügt also?“
„Ja, und zwar sehr schlecht. Nur einmal hat sie
die Wahrheit gesagt: die Namen Chabrot und I.D.U.S. sagen ihr tatsächlich
nichts. Ihre Antwort auf meine Frage kam ganz spontan. Man merkte ihr direkt
an, daß sie froh war, endlich offen antworten zu können.“
„Trotzdem... Sie ist verdammt sympathisch“,
murmelte Hélène.
„Wem sagen Sie das?“ lachte ich.
12
Fragen
und Antworten
Ich ging zurück in mein Büro, öffnete das
Fenster und lehnte mich hinaus. Lydia verließ gerade das Haus. Nachdenklich
ging sie ein paar Schritte. Wie eine Schlafwandlerin. Plötzlich, wie durch
einen Zauber — so schnell war die Bewegung — steckte eine Zigarette in ihrem
Mund. Sie machte einige Züge, immer noch wie im Traum. Dann warf sie die
Zigarette auf den Boden... und erwachte. Sie mußte sich wohl bewußt geworden
sein, wie provozierend das war, was sie eben getan hatte. Schließlich war Tabak
in diesen Zeiten knapp! Eine Art Clochard, der seine Not übers Pflaster
schleifte, bückte sich und hob die Kippe so eifrig auf, daß es schon komisch
wirkte. Das Mädchen verschwand in der Menge.
Ich schloß das Fenster. Jetzt hielt ich es nicht
mehr aus. Ich mußte mir unbedingt eine Pfeife anzünden. Mal sehn, ob mein
Schnupfen Fortschritte machte!
Er machte Riesenfortschritte. Ich legte den
Krautkocher freiwillig aus der Hand. In diesem Augenblick erhob sich ein
düsterer, wohlbekannter Ton über Paris. Bombenalarm!
Das war die Gelegenheit! Ich holte meinen
Revolver hervor und schoß in die Decke, als die Sirene in nächster Nähe
aufheulte. Dann ließ ich mich der Länge nach fallen.
Hélène riß die Tür auf und stürzte laut
schreiend ins Zimmer. Ich stand wieder auf und lachte.
„Idiot!“ schimpfte sie. „Sie haben mir
vielleicht einen Schrecken eingejagt!“
„Ich wollte nur wissen, ob der Gesang der
Sirenen einen Knall und den Fall eines Männerkörpers übertönen kann“,
verteidigte ich mich. „Was haben Sie in dem Moment gerade gemacht?“
„Auf der Maschine getippt.“
„Und die Verbindungstür ist gepolstert! Ich
glaube, das Experiment ist überzeugend gelungen.“
„Kann man wohl sagen.“
Der Schreck saß Hélène immer noch in den
Gliedern, was sie mit einer strengen Miene zu kaschieren versuchte.
„Sie haben doch bestimmt noch nicht Marc Covet
angerufen“, sagte sie tadelnd.
„Zuerst muß ich mit Faroux sprechen. Rufen Sie
bitte die Tour Pointue an?“
Wenig später stand die Leitung.
„Hallo! Ist dort das Horrorkabinett?“ fragte ich
in die Sprechmuschel. „Wie benimmt sich Ihr Neuzugang?“
„Wenn Sie sich dazu durchringen könnten, wie
alle andern zu reden“, knurrte Inspektor Faroux zurück, „würde das unsere
Gespräche sehr vereinfachen.“
„Ist ja schon gut... Also, was macht der Zwerg?“
„Der macht sich.“
„Immer noch zu Gast bei Ihnen?“
„Mehr denn je.“
„Ach ja? Gibt’s was Neues?“
„Und ob!“ tönte Faroux. „War ‘ne prima Idee, mir
diesen Mac vorzuknöpfen. Er hat gestanden.“
„Was?“
„Ja!
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