Nestor Burma in der Klemme
Ihr Rock rutschte noch höher. Sie merkte es
nicht. Sie starrte auf die brennende Kohle im Ofen. In ihren Augen stand
Resignation. Wir schwiegen beide. Aus dem Radio von unten kam Klaviermusik.
„Sie haben mir bis jetzt nur einige Ihrer
Befürchtungen mitgeteilt“, nahm ich den Faden wieder auf. „Nur einige, nicht
alle! Zum Beispiel haben Sie mir noch nicht verraten, wen Sie des Mordes an
Ihrem Schwager verdächtigen.“
„Aber... Niemand!“ rief sie.
„Doch! Sie fürchten, daß Ihre Schwester die
Mörderin sein könnte.“
„Jeanne wohnt im nicht besetzten Gebiet. Sie
kommt nie nach Paris. Ich habe sie seit Monaten nicht mehr gesehn“, erklärte
sie mit tonloser Stimme.
„Dann frage ich mich, warum Sie eigentlich zu
mir gekommen sind“, sagte ich achselzuckend.
„Aber verstehen Sie denn nicht? Damit kein
falscher Verdacht auf eine Unschuldige fällt! Meine Schwester hat schon teuer
genug dafür bezahlt, daß Sie einen Kriminellen geheiratet hat. Wenn jetzt noch
die Umstände gegen sie sprechen... Ich habe gehofft, meine Beichte würde Sie davon
abhalten, weiterzuforschen und dadurch Jeannes Leben endgültig zu vernichten.
Ich habe Sie für rücksichtsvoll gehalten... und jetzt stehe ich vor einem
Untersuchungsrichter... schlimmer noch... einem Privatdetektiv, der weniger
Rücksicht nimmt als die Inspektoren damals.“
Lydia war aufgestanden. Gegen den Sessel
gelehnt, hatte sie mir diese Sätze mit wütender Stimme entgegengeschleudert.
Ich stand ebenfalls auf, packte ihren Arm und schüttelte sie.
„Wie haben sich denn die lieben Jungs von der Tour
Pointue damals verhalten?“ fragte ich.
„Sie waren von der Ehrenhaftigkeit meiner
Schwester überzeugt und haben sie aus dem Fall herausgehalten. Nicht mal als
Zeugin wurde sie vorgeladen...“
„Und ich tauge nicht soviel wie’n richtiger
Flic, hm? Ich bin nicht so taktvoll?“
„Sie sind ein Ungeheuer!“ fauchte das Mädchen.
„Sie haben kein Herz!“
Ich setzte zu einem Monolog an. Der Rum trug
wohl sehr zu meiner Wortgewandtheit bei.
„Und Sie“, rief ich, „Sie sind eine jämmerliche
Zimperliese, die beim Anblick einer Leiche den Kopf verloren hat, die geglaubt
hat, alle würden sie zur Rechenschaft ziehen, die panische Angst gekriegt hat,
als irgendein Unbekannter ihr gefolgt ist. Und das nur, weil sie ganz genau
weiß, daß vor allem eine Person auf der Welt am Tod des Gangsters interessiert
war: seine frühere Frau, Ex-Madame Barton, Ihre Schwester, Lydia! Seit drei
Tagen sitzen Sie in der dicksten Tinte und wissen nicht, wie Sie sich da wieder
rausziehen können — durch Wahrheit oder Lüge. Mal versuchen Sie das eine, mal
das andere, mal vermischen Sie beides miteinander. Den Cocktail kenne ich!
Endlich jedoch ringen Sie sich zu einer Beichte durch, machen aber einen weiten
Bogen um das, was Ihre Geständnisse beinhalten. Sie sind mutig genug, die Nacht
in der Wohnung eines fremden Mannes zu verbringen. Doch dann verläßt Sie der
Mut. Wie ein hysterisches Weib flüchten Sie sich in Beleidigungen. Launisch
sind Sie, spontan und sprunghaft. Verfolgen einen Plan, lassen ihn dann aber
sausen. Weil Sie sich einen neuen Plan ausgedacht haben, den Sie dann aber auch
wieder ändern... Stimmt das Porträt? Was meinen Sie? Sie selbst kennen sich
doch am besten!“
Lydia wandte sich ab, stützte den Kopf in ihre
freie Hand.
„Sie sind grausam“, murmelte sie.
„Weniger, als Sie glauben. Werd’s Ihnen sofort
beweisen... Ihr Verhalten wird nur von dem einen Gedanken geleitet: daß Ihre
Schwester den Mord begangen haben könnte.“ Ich packte sie an den Schultern und
zwang sie, mich anzusehen. „Wenn ich Ihnen versichere, daß dieser Gedanke
falsch ist, wird sich Ihr hübsches Gesicht dann wieder aufhellen?“
Schweigend klimperte sie mit den Wimpern.
„Versuchen wir’s schön der Reihe nach“, fuhr ich
fort. „Als Sie in das Zimmer kamen, war Barton schon tot?“
Sie sah mir offen in die Augen und antwortete
ohne Zögern: Ja.“
„Gut. Das ist aber nicht möglich. Nach dem
Urteil der Ärzte muß der Tod zwischen zehn und dreizehn Uhr eingetreten sein.
Der Mörder konnte verschwinden, ohne gesehen zu werden. Denn warum sollte er
nicht dasselbe Glück haben, das an dem Morgen noch jemand anders — Sie nämlich
— hatte. Dabei liefen Sie übrigens größere Gefahr als er, überrascht zu werden,
wenn... ja, wenn die Pariser den Alarmsirenen Folge leisten würden! Ihre
Zeugenaussage, Lydia, wirft die polizeilichen
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