Nestor Burma in der Klemme
Mörderin identifizieren
können. Und er opferte sich für sie, wie der Dichter sagt... Aber wer
ist diese Frau? Ich überlege hin und her. Jeanne? Lydia? Madame Bourguet? Alle
drei hätten keinen Schalldämpfer benutzt. Ich bleibe dabei: Solch ein Gerät
paßt zu keiner der Frauen. Also wurde das Verbrechen während des Bombenangriffs
begangen! So schwer es mir fällt, aber ich muß den Hornochsen von der Tour
Pointue recht geben. Schlußfolgerung: Du hast mich belogen. Barton war noch
nicht tot, als du in sein Zimmer kamst. Als mir das klar wird, erfahre ich von
Marc Covet, daß Madame Bourguet sich erschossen hat... unter Verwendung eines
Schalldämpfers! Jetzt gibt es keinen Zweifel mehr: Sie ist die Mörderin! Alles
muß sich so zugetragen haben, wie du’s mir erzählt hast.
Wieder ein Irrtum! Madame Bourguet hat Barton
nicht umgebracht. Das ergibt die Untersuchung ihrer Waffe. Die Flics haben sie
auch nie verdächtigt. Als ich das erfahre, spukst du mir schon die ganze Zeit
im Kopf rum, allerdings — entschuldige — aus ganz unromantischen Motiven. Nein,
ein seltsamer Typ läßt mich immer wieder an dich denken... Apropos, hattest du
einen bestimmten Grund, dieses Häuschen in Bois-le-Roi zu mieten? Oder war es
reiner Zufall?“
Lydia sah mich ehrlich erstaunt an, sagte aber
nichts. Ich wiederholte meine Frage.
„Nein“, erwiderte sie schließlich. „Ich bin wie
so viele nach Paris zurückgekommen, nach 1940. Hier war natürlich keine Wohnung
zu kriegen. Sogar in Bois-le-Roi stand nur das Häuschen leer. Also hab ich’s
genommen...“
„Herrlich!“ rief ich. „Und da wird immer gesagt,
Zufälle gäb’s nicht!“
„Wie meinst du das?“
„Das erklär ich dir später... falls Faroux mir
Zeit dazu läßt. Ruft schon seit ‘ner ganzen Weile nicht mehr an, mein Freund.
Wahrscheinlich ist er auf dem Weg zu uns, zusammen mit ‘nem ganzen Trupp
Uniformierter.“
Lydia erschauerte. Ich fuhr fort:
„Ich denke also fieberhaft nach... an dich und
an andere. Du erscheinst vor meinem geistigen Auge wie auf einem Bildschirm.
Ich rufe mir jede einzelne deiner Gesten ins Gedächtnis zurück. Und plötzlich
durchzuckt mich der Blitz der Erleuchtung. Wie eben dieser Blitz renne ich in
die Rue Lecourbe. Mein Kopf arbeitet angestrengt weiter. Ist gar nicht zu
bremsen. Der alte Verdacht keimt wieder auf, stärker noch als zuvor. Ich denke
an deine Schwester, von der du mir nur erzählt hast, daß sie in der nicht
besetzten Zone wohnt. Mhm... Und wenn’s nun gar keine Schwester gibt? Die
verschiedenen Vornamen beweisen gar nichts. Du brauchtest nur deinen zweiten
Vornamen in den Rang des ersten zu befördern. Was die Haarfarbe betrifft... Die
Zeitungen von 1938 schreiben von einer Krankheit, von der sich Madame Barton
gerade erholt hatte. Während meiner Grübelei muß ich an die allgemein
verbreitete Überzeugung denken, daß man nach bestimmten Fieberkrankheiten
schwach auf den Beinen ist... und bleibt. Ich erinnere mich, daß du zweimal auf
der Treppe gestolpert bist. Typhusfieber! Das erklärt alles.
Dann finde ich in der Rue Lecourbe die Browning,
zweifellos die Tatwaffe. Aber leider weist sie keinerlei Spuren eines
Schalldämpfers auf. Damit ist alles in Frage gestellt. Barton konnte nicht vor
dem Bombenangriff erschossen worden sein, denn keiner der Nachbarn hatte einen
Schuß gehört. Und du behauptest, Barton sei schon vorher eine Leiche gewesen?
Ein unlösbares Problem! Ich komme erst dahinter, als mir klar wird, zu welcher
Uhrzeit Barton erschossen wurde. Tja, chérie , ich weiß mehr als du, die
Mörderin! Ich weiß vor allem zwei Dinge: Warum Barton dich zu sich bestellt
hatte und in welchem Moment du auf den Abzug gedrückt hast. Wie alle Mörder
kannst du dich nämlich auch nicht mehr auf die Minute genau an die Tatzeit
erinnern. Aber ich, ich kann das. Barton wurde um fünf vor elf von dir
erschossen.“
Ich genoß einen Augenblick Lydias Überraschung
und fuhr dann fort:
„Mit dem, was du mir vorgeschwindelt hast, und
meinen Irrtümern in Bezug auf Madame Bourguet können wir uns die Wahrheit
zusammenreimen: Barton hat dich wiedergetroffen und zu sich bestellt, ohne sich
darum zu kümmern, ob du Zeit hattest oder nicht, denn... Sag mal, hast du 1938
schon in demselben Beruf gearbeitet?“
„Nein.“
„Das dachte ich mir. Er hat dich nämlich nicht
für eine Angestellte, sondern für eine Kundin von Irma und Denise gehalten.“
„Eine Kundin?“
„Ja. Er hielt dich für reich...
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