Netha-Chrome
der Junge an. „Geh raus und behalt verdammt nochmal die Tür im Auge!“ Manchester knurrte unverständliche Worte und warf Sydney und mir Blicke zu, die hätten töten können. Dann trollte er sich jedoch, mit tief in den Taschen vergrabenen Händen, wieder nach draußen. Die Menge um uns herum murmelte enttäuscht und widmete sich dann sofort wieder ihrem Trinkgelage.
Sydney verschränkte triumphierend die Arme vor der Brust, als ich mich direkt vor sie stellte, während der aufgebrachte Knabe den Türsteher energisch hinausbegleitete.
„Was zum Teufel war das denn eben?“ Die KI zuckte lässige mit den Schultern.
„Auch wenn ich nur eine KI bin, muss ich mich nicht beleidigen lassen.“ Ich warf die Hände in die Luft.
„Ist ja schön und gut, aber…“
„Wollen Sie mich wirklich verurteilen, Arkansas? Sie?“ Ich schüttelte fassungslos den Kopf.
„Äh, was?“
„Der Kerl hatte es verdient. Und wenn er Sie beleidigt hätte, hätten Sie ebenso reagiert.“ Da war leider etwas Wahres dran. Aber dennoch!
„Ja, nein. Ich meine, ja vielleicht, aber…“
„Aber was?“ Ich holte tief Luft.
„Erst outen Sie sich als Bulle, dann zetteln Sie eine Kneipenschlägerei an? Was ist nur los mit Ihnen? Als Undercover-Agentin hätte ich Ihnen etwas mehr Professionalität zugetraut!“
Sydney stockte und blinzelte schnell hintereinander, als müsse sie tatsächlich darüber nachdenken.
„Ich…ich glaube, ich habe mich gerade etwas…verletzt gefühlt. Ich empfand Wut.“ Sie schüttelte sachte den Kopf. „Ich hatte meine Gefühle nicht unter Kontrolle. Es war das erste Mal, dass ich solche Emotionen empfand.“ Ich schaute sie an und atmete tief durch. Sie hatte am heutigen Tage eben so viel hinter sich gebracht wie ich. Meine Nerven lagen ebenfalls blank, wie konnte ich also die KI dafür verurteilen, dass ihr die Pferde durchgegangen waren? So etwas machte sie doch nur menschlich. Und war es nicht genau das, was ich an Sydney schätzte? Ihre Menschlichkeit? Eine Menschlichkeit, die sie zwar hart erlernen musste, die sie aber auch dann nicht mehr verlöre, wenn alle anderen Menschen um sie herum die ihrige schon lange verloren hatten.
Ich legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter.
„Ist schon gut. Ich verstehe Sie, Sydney. Die halbe Stadt ist heute vollkommen überdreht, da kann und darf ich Ihnen keinen Vorwurf machen. Und außerdem hatte es dieser Scheißkerl ja wirklich verdient.“ Ich lächelte sie ehrlich an und sie lächelte etwas verhalten zurück.
„Vielleicht hätte ich nicht hierherkommen dürfen. Vielleicht hatte der Blackout Auswirkungen auf mein Ethik und Verhaltensprogramm, die ich bislang noch nicht analysieren konnte oder…“
„Sydney“, unterbrach ich sie und langsam tat es mir fast leid, sie so angefahren zu haben. „Es ist okay. Hören Sie? Es ist nichts passiert.“ Ich fasste sie an den Schultern, sodass sie mich anschauen musste und lächelte dann. „Hey, das war ein echt guter Schlag. Ich hoffe, dass Sie niemals auf mich so sauer sind wie auf diesen KI-Hasser.“ Sydney verzog ihre Mundwinkel.
„Ich war schon öfters ziemlich sauer auf Sie.“
„Muss ich mir also Sorgen machen?“ Die KI legte einen ungewöhnlichen und schwer zu deutenden Gesichtsausdruck auf. Ihre Blicke hingegen waren ein so eindeutiger Augenflirt, dass selbst ich verstanden hatte. Dieses Mädel wollte die Sache zwischen uns nicht auf sich beruhen lassen, so wie ich es vorgeschlagen hatte. Und irgendwie wollte ich es ja selbst nicht. Auch wenn neben uns die gesamte verdammte Welt zum Teufel ginge, so war es mir egal. Wenn ich nur diese Frau dabei in meinen Armen halten könnte.
„Nein, inzwischen nicht mehr“, hauchte sie leise und unsere Körper näherten sich einander an, als hätten wir zwei Magnete in der Tasche. Ich hob eine Augenbraue.
„Inzwischen?“
„Sie waren nicht immer so nett zu mir, schon vergessen? Für Sie war ich doch früher ebenfalls nur eine Ansammlung von Schaltkreisen und künstlichen Blutgefäßen.“
„Das sind Sie schon lange nicht mehr, Sydney“, sagte ich und schaute dabei tief in ihre eisblauen Augen. Einst hatte ich überlegt, ob man in den Augen einer KI eine Seele finden konnte. Bei Sydney war ich mir dessen fast sicher. Dieses endlose blaue Meer ihrer Augen ließ mich in eine wunderbare Trance fallen, ließ mich an den blauen Himmel über einer noch blaueren Lagune denken. Es klang furchtbar kitschig, aber ein einziger Blick in Sydneys Augen
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