Netha-Chrome
ließ mich die Realität vollkommen vergessen. Ob dahinter nun eine Seele wohnte oder nicht, interessierte mich fast gar nicht mehr. Wenn es überhaupt so etwas wie eine Seele gab, hatte diese KI die reinste, die mir jemals untergekommen war. Dieses Mädchen täte nie etwas aus reiner Boshaftigkeit, so wie viele Menschen. Sie würde niemals jemanden absichtlich verletzen. Sie würde niemals einen Freund vor den Kopf stoßen oder ihn im Stich lassen.
„Ich weiß“, grinste Sydney, und bevor sich unsere Lippen noch näherkommen konnten, meldete sich eine helle Stimme hinter uns.
„Also, Sie scheinen wirklich viel zu lange mit Arkansas zusammengearbeitet zu haben.“
Ich ließ blitzartig von Sydney ab und wirbelte herum. Der blonde Junge, der zuvor den tobenden Türsteher vor die selbige gesetzt hatte, stand nun mit verschränkten Armen hinter uns. Sein schwarzer Pullover war vollkommen verwaschen, seine kurzen, krausen Haare hatten schon seit längerem keinen Kamm mehr gesehen und seine bleiche Haut schimmerte leicht grünlich im Dämmerlicht der Bar. Seine kleinen, dunklen Augen musterten mich aufmerksam. „Von Ihnen hätte ich eine Kneipenschlägerei erwartet, Arkansas. Aber nicht von ihrer Partnerin.“
Die Entrüstung in seiner Stimme war gespielt, das war deutlich zu hören. Ich schaute den Knaben durchdringend an und verschränkte nun ebenfalls meine Arme vor der Brust.
„Und wer bist du? Und woher kennst du uns?“ Der Junge kicherte leise.
„Wir sind uns schon einmal begegnet. Auf neokortikaler Ebene.“
„Toluca?“, fragte Sydney verblüfft und musterte den schmächtigen Jungen ebenfalls.
„Zu Ihren Diensten“, trällerte der Regulat und deutete eine Verbeugung vor Sydney an. So erstaunt ich darüber war, wie der Hacker-König in Natura ausschaute, so wenig hätte ich mich eigentlich darüber wundern dürfen. Wenn man eine Welt beherrschte, in der man nicht nur tun und lassen konnte, was man wollte sondern auch sein konnte, wer man wollte, dann war man einfach jemand, der man ansonsten niemals sein konnte. Tolucas Ideal war wohl deshalb einen halben Kopf größer als er und zudem noch ein braungebrannter Schönling. Das komplette Gegenteil zu seiner wahren Erscheinung.
„Wenn ich mir dich so anschaue, bezweifle ich, dass dein wahrer Name Toluca ist“, sagte ich und hatte ob des Anblickes dieses halben Kindes beschlossen, ihn nicht mehr zu siezen.
Der Hacker neigte seinen Kopf und schaute etwas beschämt zu Boden.
„Stimmt, ist er auch nicht. Mein wahrer Name lautet Gera. Gera Deuisenberg-Rennerheim.“ Er schaute hoch und ich grinste. „Verstehen Sie jetzt, wieso ich mir in der neokortikalen Welt einen völlig anderen Namen gegeben habe?“ Ich nickte und musste mich beherrschen, um nicht laut loszulachen.
„Belassen wir es bei Toluca“, sagte ich und der Regulat schien darüber sehr glücklich zu sein.
„Danke.“
„Du hast dir ja einen tollen Treffpunkt ausgesucht“, raunzte ich und blickte durch die lichten Reihen der dunklen Gestalten. Sofort blieb mein Sucher auf dem seltsamen Kerl in der Ecke hängen. „Hätte es nicht das Foxy sein können. Oder von mir aus auch das Pingaa ?“
„Die werden regelmäßig von der MSS kontrolliert“, entgegnete Toluca. „Hier sind wir sicher.“ Ich blickte erneut in die Ecke. Der Kerl mit der runden Brille beobachtete uns immer noch aufmerksam. Ich deutete mit dem Kinn in seine Richtung.
„Gehört dieses Heinrich Himmler-Stuntdouble da hinten zu dir?“ Der Regulat neigte den Kopf.
„Ja. Ist einer von uns.“ Er nickte dem Kerl zu und dieser erwiderte die Geste des Hackers. „Agent Bratislava ist…“
„Agent?“, fuhr ich ihm über den Mund. „Was für ein Agent?“
„MDA“, antwortete Toluca trocken. Meine Hand ging zur Sixton.
„Willst du mich verarschen? MDA?“ Der Knabe legte beruhigend seine Hand auf meinen Arm.
„Lassen Sie Ihre Waffe stecken, Arkansas. Von der MDA geht keine Gefahr aus.“ Ich zischte ungläubig.
„Na klar. Weil das ja alles so vertrauenswürdige und nette Leute sind.“
„Ich werde Ihnen das alles erklären. Sie werden bald verstehen. Kommen Sie, folgen Sie mir.“
Ich hielt per Blickkontakt eine kurze Rücksprache mit Sydney. Diese nickte und tätschelte kurz ihren Mantel um mir zu zeigen, dass sie ebenfalls bewaffnet war. Und auch ich wollte zu jeder Sekunde bereit sein, mich zu verteidigen. Mit der MDA in einem Raum zu sein behagte mir ganz und gar nicht. Die ganze Sache hier
Weitere Kostenlose Bücher