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Nette Nachbarn

Nette Nachbarn

Titel: Nette Nachbarn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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derartige Gesellschaft.«
    »Nein, ich meine, das ist ein
merkwürdiges Zusammentreffen. Jimmys Lieblingsgedicht in letzter Zeit ist ›Ali
Souls Night‹. Es handelt von Geistern, die zusammen Wein trinken, und von
Mumien. Ist unheimlich.«
    »Das kann ich mir denken.« Die Sache
mit dem Wein paßte auch für All Souls, oder hatte gepaßt, wie ich mir sagte,
damals, als noch alles so lebendig war. Aber die Sache mit den Geistern war
vielleicht auch gar nicht so weit hergeholt. Man kam sich dort in letzter Zeit
wirklich wie in einer Gruft vor.
    Mary schaute zu dem Ornament am Baum
hinüber. »Jimmy ist ein netter Mann«, sagte sie. »Ich hasse es, ihn
hinausschicken zu müssen, vor allem, nachdem er die Kugel gebracht hat, aber
dem Besitzer würde es nicht gefallen, wenn er hier drin ist.«
    »Warum nicht? Jimmy ist doch nicht
gefährlich, oder?«
    Sie schaute zu den beiden Kindern
hinüber, die stumm neben ihr standen. Eines klammerte sich mit einer winzigen
Hand an ihrem Rock fest. »Ihr geht jetzt schön wieder hinein«, befahl sie
ihnen. »Seht fern, bis eure Mama kommt.«
    Die Kinder gingen so leise in ihre
Wohnung, wie sie auch am Tag zuvor verschwunden waren.
    »Passen Sie auf die Kinder auf?«
erkundigte ich mich.
    »Ja. Die Mutter hat bis ein Uhr
Englischstunden.« Mary kam zur Rezeption und zog das rote Band gerade, an dem
Jimmys Kugel hing. Sie bewegte sich ganz vorsichtig, eine Hand in ihre rechte
Seite gestemmt. Als sie sich umdrehte, blickten ihre hellen Augen erstaunt.
»Was soll das eigentlich heißen, ob Jimmy gefährlich ist?«
    »Ich meine ja nur. Er wurde gestern mit
dem Straßenprediger, Bruder Harry, in einen Kampf verwickelt.«
    »Ach das! Das passiert doch alle
naselang. Jimmy ärgert den alten Kerl gern ein wenig. Ist für ihn nur ein
Spiel.«
    »Harry scheint es nicht als ein Spiel
anzusehen.«
    »Nun ja, er wohl nicht. Der Mann hat
keinen Sinn für Humor. Haben religiöse Fanatiker wohl nie.«
    Dem konnte ich nur zustimmen. »Wovon
lebt Jimmy überhaupt? Irgend jemand hat mir erzählt, er will keine Sozialhilfe
annehmen.«
    »Der lebt so wie sie alle. Aber das
können Sie wohl nicht verstehen.« Zornig betrachtete sie meine sechs Jahre alte
Wildlederjacke, als mache ihr Besitz es mir unmöglich, zu begreifen, welche
Schwierigkeiten es bereitete, sich im Tenderloin durchzuschlagen. Als ich nicht
antwortete, fuhr sie fort: »Jimmy sammelt die Sachen aus den Abfalltonnen;
manchmal gebe ich ihm etwas zu tun. Und dann bettelt er. Hat mir mal erzählt,
daß er es an guten Tagen auf zehn Dollar bringen kann. Und dann ist da noch die
Blutbank.«
    »Er verkauft sein Blut?«
    »Zweimal die Woche, an drei Stellen.«
    »Muß man denn nicht bei guter
Gesundheit sein, um das zu tun?«
    Sichtlich verärgert runzelte sie die
Stirn. »Sieht Jimmy denn aus, als wäre er krank?«
    »Äh, nein, aber viele der wohnsitzlosen
Menschen in der Stadt sind Alkoholiker oder drogenabhängig.«
    »Jimmy ist keins von beidem. Der Mann
ist nicht ganz richtig im Kopf, aber er lebt gesund. Ist so erzogen worden.«
    »Wie?«
    »Christlich. Er hat mir mal erzählt,
daß er in einem guten katholischen Waisenhaus aufgewachsen ist, und dann hat er
dreimal bei Pflegeeltern gelebt. Er weiß es besser, er mißbraucht seinen Körper
nicht, wie so viele andere.«
    Und er wußte auch, was es hieß, sich
ein Heim zu wünschen, es sich verzweifelt zu wünschen. Ich empfand Mitgefühl
für Jimmy Milligan.
    Mary fuhr fort: »Jimmy achtet darauf,
gut zu essen. Wenn er Geld hat, hat er eine besondere Vorliebe für Fish and
Chips. Und wenn er eine Unterkunft hat, richtet er sie immer hübsch ein.«
    »Wo wohnt er jetzt? Ich habe gehört, er
wäre aus seiner letzten Behausung hinausgeflogen.«
    »Er wird immer hinausgeworfen. Aber
warum interessieren Sie sich überhaupt so für Jimmy?«
    »Das gehört zu meinem Job.«
    Mary verzog die Lippen zu einer harten
Linie. »Ihrem Job? Ihr Job ist es, den Irren zu finden, der uns hier belästigt.
Versuchen Sie nur ja nicht, das Jimmy in die Schuhe zu schieben! Er ist ein
guter Mann, wenn er auch sonderbar ist.« Sie wandte sich zu ihrer Wohnung um
und sagte dann noch: »Gibt es sonst noch etwas, Miß McCone?«
    »Nur eines noch. Gestern abend habe ich
eine Papiertüte neben dem Weihnachtsbaum liegen gelassen. Haben Sie sie
gesehen?«
    »Eine Tüte?« Sie schaute zum Baum
hinüber.
    »Darin war ein Bettlaken, ein
olivgrünes Bettlaken.«
    Ein merkwürdiger Ausdruck trat auf ihr
Gesicht, dann antwortete

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