Nette Nachbarn
Mädchen zu belästigen, wurden die Eltern härter ihm gegenüber.«
»Harry hat junge Mädchen belästigt?«
Mein Gesicht mußte widergespiegelt
haben, was ich dachte, weil Sallie sagte: »Oh, nicht so! Er hält ihnen nur
Vorträge über so Sachen wie ihre Frisuren und enge Jeans und Make-up. Die
Eltern, einschließlich der Dinhs und der Vangs, sind zu Mary Zemanek gegangen
und haben sie gebeten, ihn vom Haus fernzuhalten. Und die Mädchen haben sie
aufgefordert, ihn auf der Straße zu meiden.«
»Mary Zemanek hat wirklich alle Hände
voll zu tun, so, wie die Leute einfach in die Halle hineinmarschieren können.
Warum gibt es da keinen Türöffner?«
»Roy LaFond sollte für ein
Türöffnungssystem blechen?«
Ich lächelte. »Ich verstehe, was Sie
meinen.« Nach einer Weile fügte ich hinzu: »Harry hat heute morgen einen Sermon
über Otis Knox’ Tod gehalten. Die Kassiererin im Theater hat sich schrecklich
darüber aufgeregt.«
»Man kann sich auf Harry verlassen. Er
schafft es immer, aus der Tragödie eines anderen noch Kapital zu schlagen.«
Sallie stand auf, wechselte einem Mann Geld, der eine Poinsettia kaufte, und
kam dann zurück. »Ich weiß nicht, was mit dem Mann los ist. Er steckt voller
Haß.«
»Vielleicht hat es mit seiner Kindheit
zu tun.«
»Ja, die Entschuldigung versuchen sie
bei den Verrückten immer anzubringen.« Jetzt wieder besser gelaunt, zog Sallie
einen Eimer mit roten Nelken heran und fing an, Anstecksträußchen zu binden.
»Aber ich entschuldige niemanden. Harry hatte viele Jahre Zeit, über seine
Kindheit hinweg zu kommen, so schlimm sie auch gewesen sein mag. Sehen Sie mich
an: Ich hatte eine schreckliche Jugend, aber ich habe trotzdem etwas aus mir
gemacht.«
»Ja, das haben Sie.«
Sie grinste mich scheu an. »Pah, Sie
müssen mir nicht zustimmen. Ich weiß, ein Blumenstand ist nicht viel. Aber ich
arbeite, ich verdiene mir meinen Lebensunterhalt, ich habe mir ein nettes Heim
geschaffen, selbst wenn es in einem Hotel im Tenderloin ist.«
»Das ist mehr, als viele Ihrer Nachbarn
erreicht haben«, sagte ich geistesabwesend. In Gedanken war ich immer noch mit
Harrys Wahl der Ecke vor dem Sensuous Showcase Theatre als seine ›Kirche‹
beschäftigt.
»Das will ich meinen. Wissen Sie, als
ich im Gefängnis war, habe ich versucht, etwas zu lernen. Ich habe alles an
Unterricht besucht, was uns angeboten wurde, und habe mir Bücher aus der
Bibliothek geholt. Ich habe sogar versucht zu schreiben.«
»Wirklich?«
»Ja. Ich dachte, ich wäre darin gut,
wenn ich mir überlege, wie gern ich mir Geschichten über die Leute ausdenke,
denen ich begegne. Aber irgendwie hielten die Worte nicht so recht zusammen.
Was in meinem Kopf vorging, konnte ich einfach nicht zu Papier bringen.«
»Das Gefühl kenne ich.« Vielleicht gab es einen verborgenen Grund dafür, daß sich Harry ausgerechnet diese Ecke
ausgesucht hatte. Irgendeine Verbindung zwischen ihm und Knox...
»Nachdem mir klargeworden war, daß ich
keine Schriftstellerin werden würde, beschloß ich, etwas Praktischeres zu tun«,
fuhr Sallie fort. »Ein Handwerk zu lernen, damit ich mich ernähren konnte, wenn
ich auf Bewährung entlassen wurde. Eine Weile lernte ich Buchhaltung; eine gute
Buchhalterin kann immer eine Stelle finden. Aber all diese Zahlenreihen... und
es ging nie auf!«
»Hört sich an wie mein Haushaltsheft.«
Verdammt, es mußte irgendwo eine Verbindung geben.
»Das Dumme ist, so hat es mir mein
Lehrer erklärt, daß ich zuviel Phantasie habe. Ich schrieb die Zahlen auf, und
dabei wanderten meine Gedanken, und bald hatte ich eine ausgelassen. Und da bin
ich nun, eine alte Blumenverkäuferin, die mit Rosen spielt.« Sallie sagte das
ganz fröhlich, offensichtlich zufrieden mit ihrem Leben. Dann sah sie mich an.
»Machen Sie sich immer noch Sorgen wegen Harry?«
»Ja. Ich wünschte, ich wüßte mehr über
ihn.«
»Ich weiß nicht, wer es Ihnen sagen
könnte. Im Tenderloin gibt es eine Menge Menschen wie ihn — mich
eingeschlossen. Wir sehen uns jeden Tag, aber niemand kennt den anderen
wirklich. Vielleicht ist es so auch besser.«
»Vielleicht.« Ich sah auf die Uhr und
stellte fest, daß es Zeit für mich wurde, Don und Carolyn treffen.
Als ich aufstand, um zu gehen, zupfte
Sallie eine gelbe Rose aus einem Eimer in ihrer Nähe und steckte sie mir an den
Aufschlag. »Ein Friedensangebot«, erklärte sie. »Tut mir leid, daß ich Sie
angegriffen habe. Sind wir Freunde?«
»Wir sind Freunde«, sagte ich —
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