Nette Nachbarn
Überall sah man Leute, die ihre Weihnachtseinkäufe tätigten, und
dazwischen die Nikoläuse der Heilsarmee und unzählige Bettler. Ein
Streichquartett in Zylinder und Frack — eine Aufmachung, die sie so aussehen
ließ, als wären sie einem Roman von Charles Dickens entsprungen — war an die
Stelle des Tänzers vor I. Magnin getreten, und die Klänge ihrer
Weihnachtslieder mischten sich mit Autohupen und den schrillen Pfiffen der
Verkehrspolizisten. Fußgänger drängten sich vor den Schaufenstern des
Warenhauses, um einen Blick auf die weihnachtlichen Auslagen zu erhaschen. Ich
blieb selbst stehen, um eine Dekoration zu bewundern.
Sallie Hyde saß auf dem Schemel in
ihrem Blumenstand. Sie trug ein leuchtendrotes Kleid, aber ihr gewaltiger
Körper war traurig vorwärts gegen den kleinen Tresen gesackt, ihre Hände ruhten
untätig in ihrem Schoß, und sie starrte ins Leere. Sie machte kein Geschäft;
die Leute hasteten vorbei, als hätten sie Angst, von ihrer düsteren Stimmung
angesteckt zu werden. Ich bahnte mir meinen Weg durch die vorbeilaufenden
Käufer, und als sie mich nicht dort stehen sah, rief ich ihren Namen.
Sallie drehte sich um und verzog dann
das Gesicht. »Sie!«
Das war nicht gerade der Empfang, den
ich erwartet hatte. »Was habe ich denn getan?«
»Sie wissen genau, was Sie getan
haben.«
»Nein, das weiß ich wirklich nicht. Was
denn?«
Sallie wandte sich ab, und einen
Augenblick lang dachte ich schon, sie würde überhaupt nichts sagen. Als sie es
dann tat, bebte ihre Stimme vor Zorn. »Sie haben mir die Bullen auf den Hals
gehetzt. Sie sind hierhergekommen, haben mir alle möglichen Fragen gestellt,
sogar vor meinen Kunden.«
»Bullen? Aber was...?« Und dann fiel
mir ein, daß Greg vorgehabt hatte, Sallie zu überprüfen. Was er über ihre Tat
in Erfahrung gebracht hatte, mußte ihn dazu veranlaßt haben, seine Männer zu
ihr zu schicken.
»Ja, Bullen!« Mit blitzenden Augen sah
sie mich an. »Die sind hier aufgetaucht und haben mich Sachen gefragt wie zum
Beispiel, was ich von den Vietnamesen halte, die hier im Hotel wohnen. Ob ich
immer noch Probleme mit Kindern habe. Wo ich war, als der kleine Dinh gestorben
ist. Sie haben alles getan, außer mich angeklagt.«
Abrupt verging ihr Zorn, und sie schien
den Tränen nahe. »Sie sind hierhergekommen, an meinen Arbeitsplatz, und haben
mich solches Zeug gefragt, obwohl meine Kunden um uns herum standen. Wenn nun
einer von ihnen das gehört und seine Schlußfolgerungen daraus gezogen hat? Es
waren Stammkunden, die mögen mich. Was würden sie denken, wenn sie es wüßten?
Und es ist Ihre Schuld; Sie haben es ihnen erzählt. Ich weiß nicht einmal,
woher Sie es wußten.«
Ich hatte Greg von Sallies
Vorstrafe erzählt, aber ich begriff nicht, wie sie sich da so sicher sein
konnte. »Haben sie gesagt, ich hätte es ihnen erzählt?«
Sie überlegte kurz. »Nein. Aber Sie
sind die einzige, die es getan haben könnte. Niemand im Hotel weiß davon. Aber
Sie — Sie sind Detektivin. Sie riechen solche Sachen.«
Ich seufzte. »Also schön, Sallie. Ich
habe es dem Mann erzählt, der die Untersuchung leitet. Aber sie hätten es
ohnehin herausgefunden. Sie überprüfen jeden, den sie verhören, und das heißt,
alle Bewohner des Hotels.«
»Aber warum haben Sie es ihnen erzählt ?«
»Weil es mir wichtiger war,
herauszufinden, wer Hoa Dinh ermordet hat, als Rücksicht auf Ihre Gefühle zu
nehmen. Es tut mir leid, daß es Sie verletzt hat.«
Sie starrte mich einen Moment lang an,
wickelte ein Stück weißes Band um ihre Finger. Schließlich sagte sie: »Sie
können sich ebensogut setzen« und nickte unwirsch zu einem Schemel hinüber.
Ich setzte mich, froh darüber, daß sie
meine Entschuldigung angenommen hatte.
»Ich hätte nicht so wütend werden
sollen«, sagte sie. »Ich weiß, daß frühere Fehler einen Menschen auch später
noch verfolgen. Aber ich war so jung, als es passiert ist, erst Anfang zwanzig.
Ich habe das kleine Kind einer Verwandten beaufsichtigt — «
»Sie müssen es mir nicht erzählen.«
»Ich möchte es aber. Wissen Sie, ich
war wütend, daß ich aufpassen mußte. Diese Verwandten besuchten uns, sie kamen
aus Modesto, und die ganze Nachbarschaft feierte ein Straßenfest — damals war
es noch schön hier — , aber ich mußte daheim bleiben und auf das Kind
aufpassen. Die dicke, häßliche Sallie — sie verdiente es nicht, Spaß zu haben.
Behaltet sie lieber im Haus, wo niemand sehen kann, was für ein Vielfraß
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