Nette Nachbarn
sie
ist. So haben mich immer alle behandelt.«
Sie zog das Band so fest zusammen, daß
es in ihren dicken Finger schnitt. »Na ja, das Kind war jedenfalls noch ein
Baby, lag in der Wiege. Und hat immer nur geschrien. Es brüllte und brüllte,
bis ich es nicht mehr ertragen konnte, und da habe ich ein Kissen über sein
Gesicht gelegt. Ich wollte ihm nichts tun, aber es war so klein, und ich wußte
nicht, wie stark ich war.« Sie schwieg einen Moment, starrte auf ihre Hände; dann
sah sie zu mir auf - schüchtern, als hätte sie Angst, meinen Abscheu erregt zu
haben.
Vorsichtig sagte ich: »Sie hatten
recht, als sie es vorhin einen Fehler nannten. Das war es. Ein tragischer
Fehler.«
Erleichterung legte sich über ihre
fleischigen Züge, und sie fing an, das Band von ihren Fingern zu wickeln. »Es
war in vieler Hinsicht tragisch. Für die Eltern des Babys. Für meine Familie.
Ich habe sie verloren, müssen Sie wissen; sie haben nie wieder ein Wort mit mir
gesprochen. Ich wohne jetzt seit fünfundzwanzig Jahren im Tenderloin, seit ich
damals aus dem Gefängnis gekommen bin. Ich habe einen Bruder auf der anderen
Seite der Stadt, in Noe Valley, und eine Schwester in Saint Francis Wood. Beide
haben erwachsene Kinder, die ich nie gesehen habe. Ich habe für diesen Fehler
bezahlt, kann ich Ihnen sagen. Ich habe bezahlt.«
»Ich weiß. Wir wollen nicht mehr
darüber sprechen.«
Sie nickte und blickte über die
Schulter. Ein Mann im Nikolauskostüm stand da, einen bunten Strauß in der Hand,
einen besorgten Ausdruck im Gesicht. »Alles in Ordnung, Sallie?« erkundigte er
sich.
»Fein, Mr. Claus. Meine Freundin und
ich haben uns gerade über jemanden unterhalten, der... der gestorben ist.« Sie
stand auf und wickelte den Strauß für ihn ein.
Als sie sich wieder hinsetzte, fragte
ich: »Er heißt doch nicht wirklich Mr. Claus?«
Sie grinste. »Nein. Das ist Forbes. Er
ist ein ehemaliger Schauspieler, war mal ‘ne große Nummer in Hollywood. Kannte
all die wichtigen Leute, ging zu all den großen Parties. Aber dann hat er keine
Arbeit mehr bekommen und war gezwungen, hierherzukommen und bei seiner Tochter
zu wohnen. In der Weihnachtszeit ist er jetzt der Nikolaus bei Macy’s.«
Ich fragte mich, wieviel davon wahr
war, entschied, nichts außer der Sache mit dem Nikolaus, und sagte mir dann,
daß es ohnehin unwichtig war. Mir persönlich gefiel die Vorstellung eines
arbeitslosen Schauspielers, der jedes Jahr seine Rolle als Nikolaus spielte,
ich dachte gern daran, wie der alte Mr. Forbes zu all den großen Parties mit
den wichtigen Leuten in Hollywood ging. Manche Menschen würden Sallies
Phantastereien als Lügen bezeichnen; ich sah darin ihre Art, sich die
Lebensfreude zu erhalten. Und ich fühlte, daß sie sich nur zu unwichtigen
Dingen ihre Geschichten ausdachte. Wenn etwas wirklich wichtig war, wie die
Fragen, die ich ihr stellen wollte, dann wäre sie peinlich genau auf die
Wahrheit bedacht.
»Sallie, ich bin hergekommen, um mit
Ihnen über Bruder Harry zu reden, den Straßenprediger.«
»Was ist mit ihm?«
»Wissen Sie, ob er jemals mit Otis Knox
zu tun hatte?«
Sie überlegte. »Na ja, er steht immer
an der Ecke vor dem Theater. Er kommt morgens und predigt, bis ihn jemand
verscheucht. Und sie halten ihn nie lange fern. Er geht und holt sich ein
Sandwich oder eine Tasse Kaffee, und dann kommt er sofort wieder.«
»Gibt es einen Grund dafür, daß er sich
gerade diese Ecke ausgesucht hat?«
»Ich nehme an, das Theater. Es ist eine
Art deutliches Beispiel dafür, was Harry haßt.«
»Ich frage mich, ob es einen anderen,
weniger offensichtlichen Grund gibt. Haben Sie Harry je mit Otis Knox zusammen
gesehen?«
»Nur, wenn sie sich auf der Straße
angebrüllt haben. Das schien Knox genausoviel Spaß zu machen wie Harry.«
»Sie haben nie gesehen, daß sie sich
miteinander unterhalten haben?«
»Nicht daß ich wüßte.«
»Redet Harry mit irgend jemandem aus
der Nachbarschaft?«
»Mit jedem, der zuhören will. Aber das
nenne ich nicht Reden. Es ist mehr eine Tirade.«
»Worüber?«
»Über Gott, worüber sonst?«
»Wer hört Harry denn nun zu?«
»Niemand richtig. Aber manche Leute
lassen sich von ihm zum Zuhören zwingen und bleiben eine Weile stehen. Das ist
auch den Vietnamesen aus unserem Haus so gegangen, als sie damals hier
eingezogen sind. Selbst als sie ihn schon richtig einschätzen konnten, sind sie
noch höflich geblieben. Es sind wirklich guterzogene Leute. Aber als er anfing,
die jungen
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