Neu-Erscheinung
oder ob nicht vielleicht doch ER dahintersteckt. Aber das wäre unter seinem Niveau. Mein Vater hat Wichtigeres zu tun, als Züge der Deutschen Bahn in die Kritik zu bringen, nur um mit mir indirekt in Kontakt zu treten. Ein kleiner Zweifel aber bleibt, denn das, was da in Würzburg geschieht, kann nicht in seinem Sinne sein. Oder etwa doch?
»Die Fahrscheine bitte, noch jemand zugestiegen?«
Der junge Zugbegleiter mit dem billigen Brilli im rechten Ohr und dem leicht oxydierten Panzerkettenarmband schiebt ein Onlineticket durch den Scanner. Die Arbeit beansprucht ihn nicht allzu sehr, er hat noch genug Energie, um mich direkt in seinen Fokus der Betrachtung zu ziehen.
»Und, junge Dame«, er grinst mich an, »auch zugestiegen?«.
»Ja. Einmal in Persepolis, auf einer Sklavengaleere. Passiert mir nicht nochmal.«
Der Brilliträger im bahnblauen Dienstanzug, vermutlich ein Kevin, Marvin oder Thomas, mustert mich mit einer Ahnungslosigkeit, die schon groteske Züge trägt. Kevin, Marvin oder Thomas versucht zunächst herauszufinden, ob andere Mitreisende meine Antwort als Provokation auffassen oder vielleicht doch nur als einen harmlos munteren Kommunikationsansatz. Keiner hat etwas davon mitbekommen. Keiner. Das hier, das ist etwas zwischen uns. Nur uns. Und das wird Kevin, Marvin oder Thomas mit jeder Millisekunde klarer, und er nutzt die Chance für einen kleinen, harmlosen Gegenscherz.
»Persepolis? Klar. Kenn ich. Außerhalb des Verkehrsverbundes, richtig?«
»Wenn ich Ihnen darauf antworte, muss ich dann nachlösen?«, frage ich mit einem polarbärkalten Lächeln und fast vollständig zusammengekniffenen Lippen, die aus meinem Mund eine gerade Linie mit Grenzzauncharakter machen.
»Versteh ich jetzt nicht«, antwortet Marvin, Kevin oder Thomas wahrheitsgemäß.
»Glaub ich aufs Wort«, entgegne ich. »Und bevor Sie jetzt wissen wollen, ob ich heute Abend schon was vorhabe, danke, ich bin nicht interessiert.«
»Äh, wie kommen Sie denn jetzt da drauf?«
»Sie haben es gedacht, schon als Sie mich zum ersten Mal gesehen haben.«
»Woher wollen Sie wissen, was ich gedacht habe!«
»Weil ich’s kann.«
»Was?«
»Wissen, was andere denken.«
»Ist das jetzt so ’n Frauending? Ich meine, Intuition und so, kann ja jeder sagen, oder?« Kevin, Marvin oder Thomas lacht hilflos in die Runde, die Aufmerksamkeit einiger Mitreisender hat sich in den letzten Sekunden merklich gesteigert.
»Nein, das ist nicht so ’n Frauending, das ist ein Geschenk meines Vaters.«
Ein Ruckeln geht durch den Waggon. ER !
»Hehe«, kommt aus Kevin, Marvin oder Thomas.
»Ich rate dir eines, egal was du nimmst, nimm weniger davon!«
»Wie bitte?«
»Ich bin keine von den kleinen Schuschis, die du in dein winziges, mieses, verräuchertes Zugbegleiterabteil zerren kannst und denen du ganz böse drohst, dass sie als Schwarzfahrer großen Ärger kriegen, es sei denn, sie wären ein bisschen lieb zu dir.«
»Hey, is’ gut, ja?!«
»Ich weiß genau, was in deinem Einzelkindköpfchen gerade vorging, glaub’s mir, ich weiß es. Und an deiner Stelle wäre ich jetzt ganz, ganz ruhig und würde gar nix mehr sagen.«
»Ich glaub, es hackt!«
Das denkt er wirklich, so weit ist er jetzt.
Ein kleiner Pulk von Neugierigen gruppiert sich um uns. Kevin, Marvin oder Thomas weiß genau, dass er nun handeln muss, falls er nicht alles an eben noch vorhandenem Grundstolz verlieren will.
»So, jetzt haben wir mal unseren Spaß gehabt, den Fahrausweis bitte, aber zügig!«
Seine Hand schießt hervor wie ein 8 -Millimeter-Geschoss und schafft mit Mühe eine Vollbremsung kurz vor meinem Gesicht. Ich fixiere die Hand, die gezwungenermaßen auf einen Fahrausweis wartet. Ich bin geladen. Würde Kevin, Marvin oder Thomas auch nur die leiseste Ahnung haben, in welch unmittelbarer Gefahr er sich zu diesem Zeitpunkt befindet, würde er die Flucht ergreifen und sich sofort in Richtung feuer- und frauensicherer Lokführerzelle begeben, um dort in aller Ruhe über einen vernünftigen Beruf nachzudenken. Ich bin längst schon bereit, in die finale Phase unserer Auseinandersetzung einzutreten.
Eine beinahe atemlose Spannung liegt in der Luft. Kevin, Marvin oder Thomas spürt die Bedrohung und lässt eher unfreiwillig sein linkes Bein zittern, was die beamtenblaue Uniformhose zu einem fast schon lustigen Flattern zwingt. Ich hole noch einmal tief Luft und dann ... dann wird mir mit einem Mal klar, was für einen unglaublichen Mist ich da gerade baue.
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