Neu-Erscheinung
aufschauen konnte, was Bettina eigentlich gerne tat. Das Sportlerkreuz war verschwunden, die Schwimmertaille hatte das Weite gesucht und die Breite gefunden. Der jugendliche Drang, jeden Tag die Welt zu verändern, hatte stark nachgelassen. Es reichte seit langem schon, höchstens einmal im Monat die Welt verändern zu wollen oder wenigstens mal kurz darüber zu reden. Noch zwei, drei Jahre und der letzte revolutionäre Akt wäre ein demonstratives Fernbleiben bei der Landtagswahl.
Aber auch Bettina hatte sich verändert. Die Unbekümmertheit war planhaftem Denken gewichen. Das Spontane hatte sich hinter einer Mauer von Bedenken verkrochen. Wir waren, von uns kaum bemerkt, erwachsen geworden.
Völlig egal. Ich liebte sie und gab ihr einen Kuss auf die Wange, die noch immer nach Mehr schmeckte. Einen kleinen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, sie zärtlich zu wecken. Ließ aber schnell davon ab, um das alles nicht zu zerstören. Ich hatte eine bessere Idee.
Die nächste Folge meiner
Messias
würde ich ihr schenken. Nur ihr.
Wieder einmal hüllte mich das Gefühl der Vorfreude ein wie ein frisch gewaschener Frotteemantel. Bis zu dem Moment, als mein Handy einen Signalton piepste, um mich auf eine neue SMS hinzuweisen. Der Ton war zu leise, um Bettina zu wecken.
Ich beugte mich zu meinem Nachttisch, mit der vagen und gelangweilten Vorahnung, gleich wie so oft auf ein Ereignis von nichthistorischer Bedeutung zu stoßen: Ein Reh-Unfall auf der B 16 zwischen Bruchforst und der Schwameler Bucht, ein versuchter Kioskeinbruch oder eine Sturmwarnung, irgendwas in der Richtung war es immer.
MELDE MICH ERST JETZT – SORRY – NUR SO VIEL – SIE WOLLEN BELLA GABOR INTERVIEWEN – MORGEN MEHR ! – SUPERSACHE – GÜNTER
An Schlaf war nicht mehr zu denken. Supersache. Danke, Günter!
DIE MESSIAS Folge 8
Der Regionalexpress von Meggendorf nach Würzburg ist zu spät, zu voll und zu kalt. Nichts von alldem stört mich, ich bin ja einiges gewohnt. Meine Mitreisenden haben da schon erheblich mehr Probleme. Ihr Ächzen, Stöhnen, Fluchen ist eindeutig. Ich habe meine ganz eigenen Sorgen, und die stehen auf Seite 4 einer Tageszeitung, deren Namen ich nahezu leidenschaftlich vergessen habe. Die Schlagzeile ist eindeutig:
NIEMAND WIRD UNS AUFHALTEN –
ICH SAH MIT DER MESSIAS FERN !
Eine junge Dame hat sich vor einer Kirche in Würzburg mit der Behauptung gebrüstet, die Schwester Jesu kennengelernt zu haben. Und damit nicht genug, sie hat auch, laut eigener Aussage, durch diese Frau ihre wahre Mission gefunden. Und die besteht nun eindeutig nicht mehr in der Ausübung reiner Dienstleistung an schlechtgelaunten Urlaubsgästen im Bayerischen Wald oder sonst wo. Jetzt geht es um eindeutig mehr. Sie will fortan die Rolle der Frau revolutionieren, koste es, was es wolle. Und nicht nur irgendwie, irgendwo. Nein, Resi geht es um die Rolle der Frau in der katholischen Kirche. Nicht mehr und nicht weniger.
Ihr Auftritt muss für einen erheblichen Wirbel gesorgt haben, denn auf dem Foto sind nicht nur zwei beleibte bayerische Polizisten und ein sehr dünner katholischer Geistlicher zu sehen, neben vielen Gaffern und interessierten Zuschauern; man sieht auch die junge Frau, die nicht nur einfach vor der Kirche steht, wie es Protestler oder japanische Touristentruppen für gewöhnlich tun. Resi steht mit winddurchwirbeltem Haar auf einem Kran in respektabler Höhe. Sie hat die Renovierungsphase des alten gotischen Gemäuers genutzt, um den Kran zu kapern und dann aus geschätzten dreizehn Metern Höhe von oben zu predigen. Sie hat ein Händchen für theatralische Wirkung, das ist mal klar. Resis Blick auf dem Foto wirkt radikal und entschlossen. So entschlossen, dass ich keine Sekunde zögere, sie in Würzburg zu suchen. Immerhin bin ich der Grund ihres Protestes, und der Druck der Verantwortung wirkt auf mich wie ein innerer Marschbefehl. Da sagt man einmal wieder was über seine Herkunft, und dann so was. Resi geht steil, und ich muss sie stoppen, damit aus ihrem Höhenflug kein hundsgemeiner Absturz wird.
Seit dem Vorfall in der Pension habe ich keinen Kontakt mehr mit meinem Vater, oder besser gesagt, er nicht mehr mit mir. Wahrscheinlich ist ER sauer, aber klug genug, mich damit nicht zu behelligen. Wir kennen uns einfach schon zu lange, um wegen jeder Kleinigkeit gleich in den Clinch zu gehen.
Einen Moment lang denke ich darüber nach, ob der Zug von Meggendorf nach Würzburg grundlos zu spät, zu voll und zu kalt war
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