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Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Titel: Neubeginn in der Rothschildallee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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ängstigen, wenn du dauernd heulst. Sie hat bei der Heimkehr ganz andere Dinge erlebt als wir jetzt. Das kannst du mir glauben.«
    »Das kann doch nicht sein! Claudette ist ein Kind. Ein kleines Mädchen mit schwarzen Locken, das wie Schneewittchen aussieht und Männer um den Verstand bringt.«
    »Die Rolle hat jetzt unsere Ora übernommen. Schau mal Ora, das ist dein Onkel. Onkel Fritz. Sag ihm Schalom. Wundere dich nicht, wenn du sie nicht verstehst, Fritz. Wir tun es auch nicht. Bisher hat jeder in einer anderen Sprache auf sie eingeredet. Das Kauderwelsch probiert sie jetzt an uns aus. Und ehe du wieder aus Höflichkeit das Blaue vom Himmel lügst, Fritz, ich bin deine Schwägerin. Clara heiße ich.«
    Der Gedanke, Clara hätte gemerkt, dass er sie nicht erkannt hatte, war Fritz furchtbar. »Aber natürlich«, sagte er. »Ich habe keinen Moment gezweifelt.« Seine Stimme war unnatürlich laut.
    »Siehst du, ich wusste, du wirst dich an Clara Sternberg erinnern. Sie war Erwins Zwillingsschwester, jetzt ist sie zehn Jahre älter als er und Großmutter. Versuche um Himmels willen nicht, ihr weiszumachen, dass sie so wie früher aussieht. Sie hat nämlich ein ausgezeichnetes Gedächtnis und erinnert sich noch genau, dass sie eine außergewöhnliche Erscheinung war und dass sich alle Männer nach ihr umgedreht haben. Das tun jetzt weder Ochs noch Esel.«
    Fritz war außer sich, dass er Clara nicht wenigstens an ihrer Stimme erkannte hatte. Hatte ihn ihr graues Haar in die Irre geführt, ihre sonnengegerbte Haut, die Resignation, die er in ihren Augen zu sehen glaubte?
    »Nein«, sagte er.
    Die Vergangenheit holte zum Schlag aus. Er saß in einem Lokal in der Kaiserstraße, über das jede Woche Neues im Frankfurter Generalanzeiger zu lesen gewesen war. Dort hatte der vielversprechende Junganwalt Dr. Friedrich Feuereisen die bemerkenswerten Geschwister Sternberg kennengelernt. Fritz sah weiß lackierte Möbel und Kellnerinnen, die wie Nummerngirls beim Varieté herausgeputzt waren. Vickys Dekolleté war riesengroß, und auf der Speisekarte mit dem Golddekors stand ausgerechnet »Jambon Rothschild«.
    »Ich sehe dir an, dass es endlich Klick gemacht hat, mein Guter. Ganz genau. Clara Sternberg war die große Hoffnung der Familie. Sie war immer Klassenbeste und finster entschlossen zu studieren, was ein anständiges Mädchen damals nicht tat. Den Nobelpreis für Medizin wollte sie bekommen und mit ihren Entdeckungen die ganze Menschheit retten. Leider ist das Wunderkind zu früh und ohne Ehemann mit Mutterfreuden niedergekommen. Das war vor deiner Zeit, aber ich wette, du hast davon gehört. Meine Geschwister neigten nicht zur Diskretion.«
    Sie umklammerten einander so fest, dass sie taumelten, im Moment der Erfüllung glaubten sie gar, sie könnten die geraubten Jahre zurückholen und wieder die werden, die sie nie mehr sein würden. Fritz spürte Claras Herz schlagen, er roch ihre Haut und fühlte ihr Haar, und doch sah er Vicky. Würde es ein Leben lang so bleiben, dass der Schmerz stärker war als die Freude? Clara ließ ihn los. Sie rieb eine Träne auf seinem Gesicht trocken und sagte: »Nein, wir träumen nicht.«
    Ora schluchzte. In der Parterrewohnung wurde die Tür aufgerissen.
    »Weg da!«, brüllte Fritz. »Hier wird nicht gegafft. Nicht mehr.«
    Ora strampelte eine Sandale vom Fuß. Die Fahne mit dem Davidstern fiel auf den Boden. »Hör auf zu weinen, Claudettche«, tröstete Erwin, »wir haben es geschafft. Wir sind zu Hause.«
    »Claudettche hat Großvater mich immer genannt. Ich kann nicht anders. Ich muss weinen.«
    »Dann gib dir wenigstens Mühe, nicht alles zu sagen, was dir in den Sinn kommt. Deine Großmutter ist sechsundsiebzig. In dem Alter machen die Nerven nicht mehr mit.«
    »Meine schon«, sagte Betsy leise, die plötzlich hinter ihnen stand. »Die haben ganz anderes aushalten müssen als Freude. Komm, Claudettche, wir lassen uns von keinem das Weinen verbieten. Wir nicht. Gib mir die Kleine. Ich weiß noch, wie man mit Kindern umgeht. Das verlernt sich nicht.«
    Es wurde Abend, ehe Betsys Kinder und Claudette einander anschauen konnten, ohne dass sie flüsterten. Noch genossen sie das gemeinsame Schweigen mehr als das Wort, denn es sind die Worte, die alte Wunden zum Bluten bringen. Sie wussten, dass es lange dauern würde, ehe sie über die Vergangenheit und vor allem über die Toten würden reden können.
    »Ich habe völlig vergessen«, sagte Erwin zu seiner Schwester, als die beiden am

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