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Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Titel: Neubeginn in der Rothschildallee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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jüngere Bub.
    »Ich hab schon dreißig gezählt. Nein, zweiunddreißig. Hat Mama ihr Baby heute zu spät geweckt?«
    »Ich weck mich immer selbst. Meine Mutter putzt bei den Amis und muss jeden Morgen um sieben da sein, sonst fliegt sie. Ob die Amis für ihre Luftbrücke wirklich Rosinen laden?«
    »Schokolade auch. Darauf kannst du einen lassen. Und Bananen. Und jede Menge Kaugummi. Ich hab gehört, dass sie jetzt zu Weihnachten auch elektrische Eisenbahnen dabeihaben. Für die Kriegswaisen und Flüchtlinge. Die kriegen ja immer mehr als unsereiner. Mich hat noch nie einer gefragt, ob ich einen Vater habe. Oder eine Eisenbahn. Meine Oma sagt immer, ›Berliner müsste man sein‹.«
    »Die Berliner«, mischte sich Fritz ein, »kannst du in der Pfeife rauchen. Die nennen einen Kreppel Pfannkuchen.«
    »Ist doch egal, wie man was nennt, was man nicht kriegt.«
    »Junge, Junge, du bringst es noch weit. So schlau war Sokrates bestimmt nicht in deinem Alter.«
    Die Notkirchen inmitten der Häuserruinen, mit Strohsternen und Tannenzweigen weihnachtlich geschmückt, wirkten noch kümmerlicher als sonst, ebenso die kleinen Behelfsläden auf der Zeil – aus Holz und mit schlecht befestigten Flachdächern aus schwarzer Pappe. Von den Kaufhäusern, Cafés und Hotels, die die Zeil zu einer der berühmtesten Straßen Deutschlands gemacht hatten, redeten noch nicht einmal mehr jene, die in Frankfurts goldener Zeit jung gewesen waren. Trotz des Wetterumschwungs standen die einbeinigen Kriegsversehrten mit ihren groben Holzkrücken und zerschlissenen Mänteln schon morgens um halb neun auf der Straße. Die erbarmungswürdigen Gestalten drückten sich in windgeschützte Ecken, zogen an feucht gewordenen Zigarettenstummeln, die sie nicht zum Glühen brachten, und hatten alle die Augen von Menschen, die schon zu Lebzeiten tot sind. Fritz kannte die meisten der geschundenen Männer vom Sehen, und oft hatte er den Eindruck, sie würden auch ihn kennen. Dreien gab er fünfzig Pfennig, dem kleinen grauhaarigen Mann mit der großen römischen Nase, der ihn an seinen lispelnden Mathematiklehrer Nolte in der Quarta erinnerte, warf er ein Markstück in einen zerbeulten Blechbecher.
    »Danke schön, der Herr. Auf Sie ist immer Verlass. Mehr als auf das Vaterland.«
    »Auf das Vaterland war noch nie Verlass. Das merkt der Mensch aber erst, wenn’s zu spät ist.«
    »Wem sagen Sie das?«
    Fritz dachte an seinen Vater. Von dem hatte er als Zehnjähriger gelernt, dass die Wohlhabenden den Bettlern zu danken haben und nicht die Bettler den Wohlhabenden. »Es sind die Bettler und Schnorrer, die es uns möglich machen, ein guter Mensch zu sein«, hatte ihm der Vater erklärt. »Das hat schon mein Vater gesagt. Und vor ihm sein Vater. Und eines Tages wirst du das auch deinem Sohn beibringen. Ich bin sicher, die Rothschilds sehen das genauso.« Fritz lief zu dem Mann mit der großen Nase zurück. Er gab ihm noch eine Mark und überließ ihm sein angefangenes Päckchen Zigaretten.
    »Mein Gott, ist denn heute schon Weihnachten?«
    »So was Ähnliches. Nur viel besser.«
    Obwohl er kaum geschlafen hatte, war Landgerichtsrat Dr. Feuereisen an seinem letzten Tag bei der hessischen Justiz in Hochstimmung. Die lange Nacht hatte er in »Schloss Gripsholm« in Schweden verbracht und ein Wiedersehen voller Wehmut und Erinnerungen mit Kurt Tucholskys l931 erschienenem Sommerroman erlebt. Das berühmte Buch war soeben in der neuen Reihe »Rowohlts Rotations Romane« herausgekommen, auf Zeitungspapier gedruckt und zum Preise von fünfzig Pfennig zu kaufen – eine Sensation in der Zeit, in der der Hunger auf Deutschlands von den Nazis verfemte Schriftsteller gewaltig war und das Geld knapp. Beim Frühstück hatten Betsy und Clara gewürfelt, wer von beiden zuerst an den wiedergefundenen Tucholsky durfte. »Das haben wir auch schon gemacht«, erinnerte Clara ihre Mutter, »als Schloss Gripsholm herauskam. Danach musste das Buch auf dem Speicher versteckt werden, damit Alice es nicht in die Hände bekam.«
    »Und dein Vater auch nicht. Alice war zu jung, um sich mit einer Menage à trois zu beschäftigen, und dein Vater zu alt. Du siehst, was für alberne, überflüssige Sorgen wir uns damals gemacht haben. Ich hatte Angst, meine sechzehnjährige Tochter könnte auf die Idee kommen, mit zwei Männern ins Bett zu gehen oder mit einer Frau, und zwei Jahre später kamen die Nazis und verbrannten das Buch auf dem Scheiterhaufen.«
    Fritz dachte an das Gespräch vom

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