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Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Titel: Neubeginn in der Rothschildallee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Spätnachmittag vom Wohnzimmerfenster hinausschauten, »dass Freude wehtut.«
    »Verstehst du denn, dass die Rothschildallee immer noch so aussieht wie früher? Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber dies nicht. Nicht die Ahornbäume in der Anlage und den Fliederbaum im Vorgarten. Und das Wasserhäuschen, wo wir immer Brause kauften, was Mutter nicht wissen durfte. Selbst die Leute sehen aus wie damals. Mein Gott, schau doch mal! Das kann doch gar nicht sein. Himmel und Hölle. Das hab ich schon gespielt und dann Vicky mit ihrer Freundin Lena, der Tochter vom Ofensetzer.«
    Zwei kleine Mädchen in Sonntagskleidern aus gelben Tüllgardinen hüpften abwechselnd in die Hölle und in den Himmel. Sie hatten mit weißer Kreide Kreise und Rechtecke auf den Bürgersteig gemalt. Clara öffnete das Fenster, als die Mädchen zu singen begannen. »Sie singen ›Möwe, du fliegst in die Heimat‹«, sagte sie. »Ist wahrscheinlich ein neuer Schlager. Kein Wunder, dass ich ihn nicht kenne.«
    »Mich wundert, dass Möwen eine Heimat haben. Ich dachte, Vögel wären überall zu Hause.«
    Ora, die Weitgereiste, bejubelte die erste Blaumeise ihres Lebens, nahm später Anstoß an deutscher Leberwurst und deutschen Zwetschen, schlief erschöpft am Abendbrottisch ein und verbrachte den Rest der Nacht in Fannys Bett. Ihre Urgroßmutter aß ebenso wenig. Zu sehr beschäftigte sie die Überlegung, ob sie ihre Kinder nach dem Vater ihrer dunkelhäutigen, glutäugigen Urenkelin fragen sollte, ohne spießig, neugierig oder taktlos zu erscheinen.
    Schließlich war es Erwin, der als Erster den Mut zu Fragen fand. Er wollte wissen, wie weit es in die Thüringer Straße sei, ob Anna glücklich mit Hans Dietz geworden sei und ob er noch am Abend oder erst am nächsten Tag zu ihr gehen sollte. »Sag nur, sie hat auch kein Telefon.«
    »Natürlich nicht. Es wird Jahre dauern, ehe hier jeder an ein Telefon kommt. Uns hat man eins für November versprochen.
    Weil wir rassisch und religiös Verfolgte sind.«
    »Meinst du das im Ernst?«
    »Todernst«, sagte Fritz, »leider. Anna wird uns nie verzeihen, wenn sie dich nicht schon heute Abend sieht. Fanny geht gleich los zu ihr und holt sie her.«
    »Nicht ohne ihren Onkel. Ich male mir seit Jahren Annas Gesicht aus, wenn ich vor ihrer Tür stehe.«

3
Sprung ins kalte Wasser
Dezember 1948
    Am 17. Dezember, einem Freitag, gab es die ersten Eisblumen auf den Fensterscheiben. Auf fast jedem Dach rauchten die Schornsteine, die Pferdehaufen auf der Straße, das Gras in den Vorgärten und das Gebüsch in den Anlagen waren gefroren. Die blutrote Rose, die noch vor zwei Wochen im Vorgarten vom Nachbarhaus in Sommerpracht gestanden und Fritz jeden Morgen auf dem Weg zum Dienst veranlasst hatte, an sein Lieblingsgedicht von Friedrich Hebbel zu denken, war vom Sturm gebrochen. »So weit im Leben, ist zu nah am Tod«, zitierte er fröstelnd.
    Nur die Jugend wagte sich noch aufs Fahrrad, die Frauen trugen wieder Kopftuch und die schwarzen Wintermäntel, die sie im ersten Friedenswinter aus Militärkleidung und dicken Decken umgefärbt und genäht hatten. Junge Mädchen hatten sich der Kälte wegen in die Hosen ihrer älteren Brüder und der in Russland vermissten Väter gewagt, obwohl für Frauen Hosen im Büro als Zeichen für einen losen Lebenswandel galten. Kinder mit blau gefrorenen Lippen liefen stumm zur Schule; die Henkelmänner, in denen sie, wie in den Zeiten der großen Not, die Suppe von der Schulspeisung für ihre jüngeren Geschwister nach Hause brachten, hielten sie mit klammen Fingern. Den Babys im Kinderwagen lief die Nase und tränten die Augen.
    Raben hockten auf den Zweigen der blattlosen Bäume, die Tauben gurrten nicht mehr. Verschwunden waren die Eichhörnchen, die noch Anfang November furchtlos über die Rothschildallee gehuscht waren. Auf dem Tresen des Wasserhäuschens in der Mitte der Allee stand ein Pappschild mit der Aufschrift »Heißgetränke in drei Farben und Fleischbrühe aus echten Brühwürfeln«. Auch die Lastwagen mit den Friedberger Kennzeichen, beladen mit Rüben, Kohlköpfen und Kartoffeln aus der Wetterau, zeigten an, dass der Winter gekommen war. Trotzdem beschloss Fritz, nicht, wie er es meistens tat, in der Berger Straße die Tram zur Alten Gasse zu nehmen, sondern zum Gericht zu Fuß zu gehen. Ein Gespräch mit Erwin fiel ihm ein; er lachte so laut, dass eine alte Frau mit einem Korb voll Brennholz ihn erschrocken ansah und sich an eine Hausmauer drückte.
    »Vor

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