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Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Titel: Neubeginn in der Rothschildallee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Hitler«, hatte sich Fritz bei seinem Schwager beklagt, »bin ich ganz bequem in fünfzehn Minuten zum Gericht gegangen. Jetzt muss ich mich anstrengen, wenn ich den Weg in einer halben Stunde schaffen will, und meistens komme ich beim Portier mit heraushängender Zunge an.«
    »Vor Hitler war jeder Dackel ein Bernhardiner«, hatte Erwin gesagt. »Kannst du dich nicht erinnern? Mich hat man immerzu mit Max Beckmann verwechselt.«
    Im Lebensmittelladen in der Burgstraße standen kleine weiße Metallschüsseln mit Erbsen, Linsen und Bohnen im Schaufenster. In einer rosa Vase steckte ein mit Lametta und Wattebäuschen verzierter Tannenzweig. Der Ladenbesitzer, auf dem Kopf eine Skimütze aus den Zwanzigerjahren und um den Hals einen feldgrauen Schal, der den Russlandfeldzug besser überstanden hatte als sein Besitzer, stand mit einem Strohbesen vor der Tür, an dem noch das Preisschild hing und den er wie ein Gewehr geschultert hatte. »Es riecht nach Schnee«, fluchte Herr Naumann. »Auf sein kaputtes Knie kann sich Naumanns Herbertchen verlassen. Wenn Sie mich fragen, Herr Doktor, kommt der Winter jedes Jahr früher, seitdem der Krieg vorbei ist. Schnee vor Weihnachten! Den hat der Mensch so nötig wie einen Kropf. Dass das Wetter so verrückt spielt wie eine alte Jungfer im Frühling, hat’s früher nicht gegeben. Weiß Gott nicht. Ich wette, die Russen haben ihr Scherflein dazu beigetragen. Oder die Atombombe. Die auf alle Fälle. Sagen Sie doch selbst, hab ich recht oder nicht?«
    »Ich halt mich da raus«, grinste Fritz.
    »Da haben Sie verdammt recht. Schon mein Großvater hat immer gesagt: ›Wer das Denken den Pferden überlässt, kommt am weitesten.‹ Wenn wir nichts anderes gelernt haben in unserem Leben, dann das.«
    Sie genossen ihr Männerlachen und zwinkerten einander zu wie zwei Skatkumpel, die dem dritten Mann seine letzte Trumpfkarte abgenommen haben. Sich herauszuhalten, keine Meinung zu äußern, am besten erst gar keine zu haben, den Kopf zu schütteln und mit abwehrenden Händen »ohne mich« zu erklären, in jeder Lebenslage ein Otto Normalverbraucher zu sein, das entsprach dem neudeutschen Lebensgefühl – so wie Gert Fröbe in dem Filmschlager »Berliner Ballade«, der Furore in den Kinos machte. Es waren solche kleinen Einverständlichkeiten und die schönen, unverbindlichen Späße mit den Menschen auf der Straße, die Fritz in guten Stunden das Gefühl gaben, er hätte wieder eine Heimat.
    »Ein schönen Gruß auch an die Frau Schwiegermutter, Herr Doktor. Richten Sie ihr doch aus, zu Weihnachten hat Herbert Naumann wieder das gute Gänseschmalz aus der Rhön, das sie früher immer gekauft hat. Unsere Gänse haben uns nie im Stich gelassen. Sie glauben ja gar nicht, wie ich mich gefreut habe, dass die gnädige Frau wieder in ihr Haus gezogen ist.«
    »Wir alle haben uns gefreut«, sagte Fritz. Er starrte seine Schuhe an.
    »Ein Jammer, dass der Herr Sternberg das nicht mehr erlebt hat. Er war so ein feiner Mann, immer freundlich und so adrett, und wie reich er war, hat er sich nie anmerken lassen. Meine Frau hat das auch immer gesagt. Noch am Tag, als die Sternbergs aus dem Haus rausmussten und er noch nicht einmal mehr einen Hut aufgehabt hat und selbst hat seinen Koffer schleppen müssen, hat sie das gesagt. Ich sehe uns noch am Fenster stehen. Meine Emilie hat wie ein Rohrspatz geschimpft. Sie hat nie ein Blatt vor den Mund genommen. Sie nicht, sie war ja Kölnerin. Die reden alle, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Es ist ein Wunder, dass ihr nichts passiert ist beim Adolf. Sie hat praktisch immer mit einem Fuß im KZ gestanden.«
    »Ich muss weiter«, erklärte Fritz. Er stellte den Kragen seines Wintermantels hoch und zog seinen Hut tiefer. Ob es ihm wohl gelungen war, so zu wirken, als wären ihm Gespräche wie die mit dem Kaufmann Naumann selbstverständlich oder gar ein Bedürfnis? Noch als er am Bethmannpark stand, bedrückte ihn der Gedanke, dass bei Menschen, die eine Vergangenheit hatten wie er, meistens ein einziges Wort genügte, um die Hoffnung zu zerstören, man hätte wieder eine Heimat.
    Ihm fielen zwei Jungen auf, die einen bunten Gummiball gegen die Parkmauer droschen. Sie trugen die gleichen langen lehmbraunen Wollstrümpfe, gegen die Fritz schon in seiner Kindheit ohne Erfolg rebelliert hatte. Sobald ein Flugzeug auftauchte, winkten sie nach oben, klatschten und brüllten aus voller Kehle: »Ein Rosinenbomber.«
    »Das war heute schon der zwanzigste«, sagte der

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