Neubeginn in der Rothschildallee - Roman
Schneiderin im Prüfling. Der Zufall wollte es, dass sich Fräulein Scholl spontan und überglücklich an Clara erinnerte. Ihre Großmutter, einst Hausschneiderin bei den Sternbergs, hatte Claras erstes Matrosenkleid genäht und es acht Jahre später für Vicky abgeändert.
»Leider«, erzählte Clara ihrer Mutter, »ist die hilfreiche Fee mit den Ortskenntnissen und den Beziehungen, die wir nie mehr haben werden, ein ganz falsches Luder. Die Dame plädiert immer noch für die Sippenhaft. Jedes Mal, wenn sie Ora sieht, zeigt sie mir unmissverständlich, dass sie die Hautfarbe meines Enkelkinds missbilligt.«
»Haben wir alles schon gehabt«, erinnerte sich Betsy. »Allerdings frage auch ich mich des Öfteren, wann Ora dahinterkommt, was Claudette ihr angetan hat. Jüdisch allein hätte doch gereicht.«
»Sprichst du von Sammy Davis junior?«
»Bestimmt nicht. Wer ist denn das?«
»Ein berühmter amerikanischer Schauspieler und Sänger. Erst war er nur Neger, und dann ist er zum Judentum übergetreten.«
»Schön, aber schwer, hätte dein Vater gesagt«, lächelte Betsy.
Bereits eine Viertelstunde nach Beginn des Schlussverkaufs mussten viele Geschäfte zeitweilig geschlossen werden. Es bestand Gefahr, dass sich Kunden gegenseitig niedertrampelten. Flüche und Beschimpfungen, auch Handgreiflichkeiten bestimmten die Szene. Ein gewiefter Straßenhändler an der Hauptwache bot winzige Fläschchen mit Riechsalz an. In einem Abstand von zehn Minuten fuhren auf der Zeil zwei Krankenwagen vor. Ein Kriegsversehrter stürzte, als er an einem Stand für Unterwäsche seine Krücken nach einer zeternden Frau warf. Schluchzende Kinder verloren im Gewühl ihre Mütter. Frauen benutzten ihren Kinderwagen als Waffe. Ein Schupo musste geholt werden, um zwei Greisinnen zu trennen, die sich so um einen Bettbezug stritten, dass die eine im Zweikampf den oberen Teil ihrer Zahnprothese verlor. Der triumphierenden Siegerin rissen Bluse und Einkaufstasche.
Die Menschen hatten einen gewaltigen Nachholbedarf, unendlich war die Gier nach den Dingen, die es jahrelang nicht gegeben hatte. Frau und Mann, Alt und Jung, die Beherzten und auch die Schwachen kämpften, kreischten und kauften, als hätte es Goldstücke vom Himmel geregnet. Schwitzend, erschöpft und mit verkniffener Miene schleppte das Jagdvolk seine Trophäen nach Hause. Die Straßenbahnen waren so überfüllt wie in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Zwölfjährige und alte Frauen standen auf den Trittbrettern. Schaffner brüllten, Polizisten tobten, Autofahrer ließen die Hand nicht von der Hupe. Ein Radfahrer fuhr eine alte Frau an.
»Schlussverkauf ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln«, erkannte ein Philosoph, den seine Frau gerade in eine grüne Trachtenweste zu stopfen versuchte.
»Die passt wunderbar zu Lederhosen«, besänftigte die Amazone den aufgebrachten Gatten.
»Ich habe keine Lederhose. Ich bin Hamburger. Dort verkleiden sich noch nicht mal die Verrückten als Holzhacker.«
Fanny, die nach einer tagelang anhaltenden Attacke auf Herz und Hirn ihrem widerstrebenden Vater einen freien Tag abgerungen hatte, erkämpfte schon morgens um halb zehn trotz übermächtiger Konkurrenz eine langärmelige grüne Seidenbluse, die ihr mindestens eine Nummer zu groß war. Kurz darauf entriss das schüchterne Fräulein Feuereisen zähnefletschend einer schimpfenden Frau aus Ostpreußen einen schwarzen Taftrock. Das Prachtstück hatte drei Stufen Volants und einen breiten, mit roter Borte verzierten Taillenbund. »Anna wird den Rock bestimmt verlängern können«, hechelte die Siegerin. »Im Krieg hat sie noch ganz andere Kunststücke vollbracht. Die weiße Bluse, die ich immer noch trage, weil sie damals so viele Abnäher anbrachte, die man bei Bedarf auftrennen konnte, stammte aus zwei Kissenbezügen. Selbst die Monogramme konnte Anna retten. Eins hab ich bekommen und das andere Sophie. Wir waren stolz wie die Spanier.«
Clara war mit ihrer Nichte zum Schlussverkauf unter dem Vorwand mitgekommen, Erwin brauche »unbedingt noch ein zweites weißes Hemd fürs Amerikahaus und einen ärmellosen Pullover für den Herbst«. Nach einem wütenden Duell mit einer Frau ihres Alters und ihrer Statur erbeutete sie für sich ein rotweiß gepunktetes Sommerkleid. Es hatte, wie sich erst herausstellte, als Clara die Verliererin zum zweiten Mal attackierte, den passenden Bolero, der in jeder Modezeitschrift empfohlen wurde, und den weißen Lackgürtel, den sich Clara schon
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