Neubeginn in der Rothschildallee - Roman
eigens eine Telefonleitung zwischen den beiden Städten gelegt wurde, war eine der erfolgreichsten Sendungen von Radio Frankfurt.
Für die Gäste, die um den Radioapparat saßen, gab es üppig belegte Schinkenbrote, Käsebrötchen wurden mit Petersilie und sauren Gurken dekoriert, der Bembel für den Ebbelwoi, lange im Keller verstaubt, war wieder Mittelpunkt der Geselligkeit. Der Ebbelwoi schmeckte wie einst im Mai. Sonntags standen prächtige Torten und große Schüsseln mit Schlagsahne auf gestickten Tischdecken, bei ganz feinen Leuten gab es nach englischem Vorbild hauchfeine Gurkenscheiben zwischen dünnen Schnittchen aus Weißbrot. Sie mundeten nicht, galten jedoch als letzter Schrei. Die Herren tranken Weinbrand und nannten ihn Cognac, die Damen hatten die Wahl zwischen Eierlikör und Kakao mit Nuss. Wenn sie an ihre Kristallgläser und silbernen Kuchengabeln dachten, die die Bomben nicht überlebt hatten, hatten sie feuchte Augen. Auch wer noch nie eine gesehen hatte, träumte von einer Hausbar. Sprachkundige wünschten sich einen Cocktailshaker, sie wussten, was ein Martini war, und sie klagten, dass es in Deutschland keine Oliven zu kaufen gab.
Nach zwei mit Haltung ertragenen Fehlversuchen gelang Betsy der Küchencoup aus besonnten Tagen: der »kalte Hund« aus Butterkeksen, Palmin, das es seit Neuestem überall zu kaufen gab, Zucker und Kochschokolade. Fanny war so verzaubert wie einst ihre Mutter. Ihre Augen glänzten, sie aß vier Stücke, beschmierte ihre weiße Bluse und seufzte beseelt: »Genauso habe ich mir immer das Schlaraffenland vorgestellt. Kuchen und Torten erschienen mir immer schöner als gebratene Tauben mit Messer und Gabel im Rücken.« Clara und Betsy sahen sich an. Sie hatten beide die sechsjährige Vicky im weißen Kleid an der Sonntagstafel sitzen sehen. Betsy schluckte den Schmerz hinunter, ehe er ihr Gesicht zeichnete. »Das ist kalter Hund, Ora«, sagte sie und steckte ihrer Urenkelin ein Stück in den Mund, »aber Vorsicht, Kind! Kalter Hund gibt ganz schlimme Flecken.«
»Wau, wau«, lachte Ora.
Passé war das Bier mit dem geringen Alkoholgehalt und dem wässerigen Geschmack, in den Gläsern schäumte »Bier in Friedensqualität«. »Der deutsche Mann kann sich endlich wieder standesgemäß betrinken«, verteidigte sich Hans, als Anna ihm nach einem ausgedehnten Kneipenabend mit Katerkopfschmerz und umgerissenem Garderobenständer in der Diele die Vorwürfe der gekränkten Ehefrau machte. »Von meinem nächsten Lohn bekommst du ein Nudelholz. Das schlägst du mir auf den Schädel, wenn ich zu spät nach Hause komme. Nein, nein, das muss sein. Das ist gute alte Germanensitte.«
»Ich habe noch das alte Nudelholz«, sagte Anna, »ich weiß jedoch nicht mehr, wie man’s benutzt. Es gab so lange nichts, was man hätte ausrollen können. Und viele Frauen haben ja auch keinen Mann mehr, den sie mit einem Nudelholz verkloppen können.«
»Da siehst du mal wieder, wie gut es Gott mit dir gemeint hat. Du hast wenigstens einen Mann mit einem Bein. Und zwei gesunde Kinder. Und vielleicht kommt demnächst die ganz große Überraschung.«
»Was meinst du denn?«
»Ich habe versprochen, nicht darüber zu sprechen.«
»Ich glaub’, du bist immer noch besoffen«, sagte Anna.
Kompott aus Rhabarber, obwohl nun mit Zucker und nicht mehr mit Süßstoff und Backaroma mit Vanillegeschmack gekocht, stand nur noch selten auf dem Tisch, denn auch für Normalverbraucher ohne Beziehungen gab es Obst aus Übersee. Eine Frankfurter Zeitung meldete in Versen, in denen sich Süße auf Küsse reimte, die Ankunft einer Ladung Bananen aus Kolumbien.
»Hast du je von Kolumbien gehört?«, fragte Fanny ihren Vater. Sie zeigte ihm die Karte in der Zeitung. »Das Land muss ein Paradies sein. Wahrscheinlich liegt man dort den ganzen Tag unter Bananenbüschen und singt fröhliche Lieder.«
»Bananen wachsen an Stauden«, sagte Erwin.
»Mein Schulkamerad Willy Löwenstein«, erinnerte sich Fritz, »ist nach Kolumbien ausgewandert. Er war Zahnarzt auf der Bockenheimer Landstraße. Die Nazis haben 1933 seine Praxis am selben Tag zerschlagen wie meine. Willy hatte zwei kleine Kinder und eine Frau, die auf dem Schiff an Kinderlähmung erkrankte und die in der Emigration nie mehr was dazuverdienen konnte. Vom Paradies hat er nichts geschrieben. Du siehst, Tochter, es ist alles relativ im Leben. Hast du schon mal von der Relativitätstheorie gehört?«
»Nicht, dass ich wüsste. Aber dass es Menschen, denen
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