Neubeginn in der Rothschildallee - Roman
Tag vorbei, an dem mir aufging, dass ich schwanger war.«
Vor einem Gemüsegeschäft lagen Erdbeeren, Kohlrabi, die ersten Tomaten und Sauerkirschen. Der Ladenbesitzer hatte eine grüne Schürze an; er lächelte und zeigte mit ausholender Armbewegung auf das immer noch ungewohnte Bild der Fülle. »Bitte, meine Damen«, lockte er. »Immer nur hereinspaziert. Wer weiß, wie lange deutsche Tomaten noch rot werden dürfen. Die Demokratie mag ja keine Kommunisten.«
»Wir müssen nach Hause«, erklärte ihm Clara. »Meine Mami wartet mit dem Mittagessen. Es gibt Kohlrübensuppe mit Kommissbrot.«
»Na, so was!«, staunte der Mann. »Sie sitzen ja im falschen Zug.«
»Aber erster Klasse!«
Sie kicherten beide, doch die eine erreichte der Klang der alten Tage. »Mein Gott«, befreite sich Clara von den Gespenstern, »eben hab ich einen Moment gedacht, ich wäre mit deiner Mutter unterwegs. Wir haben immerzu gekichert und Blödsinn gemacht, wenn wir zusammen waren. Wir hielten das ganze Leben für einen Witz, und wir kamen gar nicht auf die Idee, dass der Witz eine Pointe bekommen könnte. Eine bitterböse und tödliche. Wir haben uns unglaublich gut verstanden, deine Mutter und ich. Erwin hat immer gesagt: ›Ihr beide seid ein Kopf und ein Arsch.‹ Entschuldige, Fanny, man sollte mich zum Teufel jagen und an den Pranger stellen.«
»Warum?«
»Ich hätte das nicht sagen sollen. Es muss dir doch das Herz schwer machen, wenn ich von deiner Mutter rede.«
»Du hast mir nicht wehgetan«, schwindelte Fanny, »kein bisschen. Ich bin froh, dass es dich gibt und dass ich mit dir von meiner Mutter reden kann.«
Sie zwang sich, wieder an Erdbeeren zu denken. Im ersten Nachkriegssommer hatte Hans von einem Kumpel mit Schrebergarten ein Körbchen Erdbeeren nach Hause gebracht. Anna hatte die Früchte gezählt und auf fünf kleine Teller verteilt, doch Hans hatte Sophie, dem kleinen Erwin und Fanny je eine Extrabeere zugeschoben. »Der deutsche Mann hält nichts von Gerechtigkeit«, hatte er gesagt.
Fanny war entschlossen, weiter den Schutz der schönen Erinnerung zu genießen, doch die Farben verblassten zu schnell, die Konturen verschwammen. Ihre Haut brannte. Es war an der Zeit zu reden. Sie blieb stehen, stellte ihre Päckchen ab, klemmte das größte zwischen ihre Füße und verschränkte ihre Arme. Ihr Mund war trocken, die Zunge schwer, und doch konnte sie lächeln.
Ihr Vater hatte ein Anrecht darauf, dass er sich nicht vor ihr als der Mann ohne Erwartung tarnen musste, der nur noch den Wunsch hatte, für seine Tochter da zu sein. Diese Tochter durfte keinen Tag länger zulassen, dass Schweigen und Unaufrichtigkeit ihr Zusammenleben bestimmten. Sie hatten zu lange ohne einander auskommen müssen. Ihnen fehlten die Jahre der Heiterkeit, die Zeit von Sorglosigkeit und Zuversicht. Nach der Trauer um Frau und Sohn, um Mutter und Bruder war ihre Gemeinsamkeit kostbar. Sie ertrug die kleinen Schwindeleien und Unaufrichtigkeiten nicht, die in den meisten Familien für das Gleichgewicht im Alltag sorgten. Ähnliches hatte Erwin erst vor zwei Tagen gesagt. Wusste er Bescheid? Ob auch Betsy zwei und zwei zusammengezählt hatte?
Es drängte Fanny, auch Clara zu schützen. Die Frau, um derentwillen ihr Vater der ganzen Familie etwas vorgaukelte und nachts durch die Wohnung schlich wie ein Kind, das an das verbotene Marmeladenglas will, sollte sich nicht weiter lächerlich und klein machen. Es beschämte Fanny, wenn Clara zu stammeln anfing, es schmerzte sie, wenn sie ihre fast fünfzigjährige Tante in der Diele flüstern hörte; es war schlimm, wenn ihr Vater und Clara verstummten, sobald sie ins Zimmer kam. Clara war etwas Besonderes, sie war zu klug, um sich dumm zu stellen. Notlügen und Versteckspielen entsprach nicht ihrem Niveau und nicht ihrer Courage. Fanny bewunderte Clara zu sehr, um weiter Komödie zu spielen. »Keinen Tag länger«, murmelte sie.
»Wovon redest du?«
»Ihr müsst nachts nicht durch die Wohnung schleichen wie Indianer auf dem Kriegspfad.« Fanny musste sich zwingen, Clara anzuschauen. »Ich weiß es.«
»Seit wann?«
»Ziemlich von Anfang an. Na, sagen wir ab der dritten Nacht. Da ist Vati gegen das Küchenbüfett gestoßen. Zum Glück hat er verlernt, sich unauffällig zu verhalten. Und wahrscheinlich halten sich Geheimnisse nicht lange, wenn die Menschen, die nichts hören, sehen und ahnen sollen, jahrelang auf jedes Geräusch haben achten müssen, damit sie sich bei Gefahr sofort in Luft
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