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Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Titel: Neubeginn in der Rothschildallee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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lange wünschte. Anschließend ergatterte sie einen eng anliegenden weißen Pullover, wie ihn die vollbrüstigen Pflückerinnen in dem italienischen Erfolgsfilm »Bitterer Reis« getragen hatten. Für Betsy, die stets behauptete, alte Frauen brauchten keine neuen Kleider mehr, sondern einen neuen Körper, konnte ihre frohgestimmte Tochter einen cremefarbenen Pullover mit kleinen Perlmuttknöpfen erstehen. Das fein gehäkelte Stück ähnelte einer Bluse, die Betsy als junge Mutter getragen hatte, so sehr, dass Clara in einem Moment von Selbstzweifel und Schauder doch Bedenken kamen. War es nicht grausam, schmerzhafte Erinnerungen zu wecken? Ob ihre Mutter auch an die Tage der Jugend denken würde, wenn sie den Pullover mit den Perlmuttknöpfen sah?
    Sie und Fanny liefen, beladen mit ihren Einkäufen, quittengelbes Vanilleeis lutschend und so vertraut und verbunden miteinander, als wären sie Schwestern und hätten nur das Gute und Schöne und nie das Wahre erlebt, von der Hauptwache über den Sandweg nach Hause. Clara erzählte ihrer Nichte von ihrer besonderen Beziehung zum Sandweg. »Hier wollten die Leute nie mehr scheinen als sein«, sagte sie. Ihr Bruder Otto, an den sie sich deutlich erinnerte, obwohl sie erst vierzehn gewesen war, als er in Flandern fiel, war noch im Sandweg geboren. »Das muss damals eine wunderbar überschaubare Zeit gewesen sein«, seufzte Clara. »An die Nazis war noch nicht zu denken, alle glaubten, es gehe immer weiter aufwärts, die Juden konnten das Wort Illusion nicht buchstabieren und haben für den Kaiser gebetet. Vater und Otto natürlich auch. Mir hat es immer leidgetan, dass ich nie dazu kam, richtig mit meinem ältesten Bruder zu reden. Als Kind verbringt man idiotisch viel Zeit damit, seinen Geschwistern die Dinge zu neiden, die man schon eine Woche später nicht mehr haben will.«
    »Ich hatte«, erkannte Fanny, »noch nicht mal Gelegenheit, meinem Bruder etwas zu neiden.«
    »Entschuldige, Fanny. Ich könnte mich ohrfeigen. Mir gebührt der erste Preis für Gedankenlosigkeit.«
    »Du und Gedankenlosigkeit«, widersprach Fanny, »das gibt’s überhaupt nicht. Gedankenlos sind nur die Dummen. Und die Niederträchtigen.« Sie zeigte auf das Paket mit dem Bolerokleid in Claras Einkaufsnetz. Es war eilig von einer Verkäuferin in eine zu kleine braune Tüte gestopft worden, der rotweiß gepunktete Stoff leuchtete in der Sonne. »Ich finde es gut, dass du neuerdings so was trägst.«
    »Was genau meinst du, wenn du neuerdings sagst?«
    »Was soll ich denn meinen?«
    »Genau das, was eine alte Frau vermutet, die Kopfschmerzen bekommt, wenn ihre junge Nichte ihre Frage mit einer Gegenfrage beantwortet«, lächelte Clara. »Der Ausdruck neuerdings gilt als gängige Umschreibung für die Begriffe ›in letzter Zeit‹ und ›seit Neuestem‹. Darf ich davon ausgehen, dass jemand, der sonst nicht die Angewohnheit hat, in Rätseln zu sprechen, mit mir nicht über deutsche Redewendungen diskutieren wollte?«
    »Jetzt bekomme ich die Kopfschmerzen«, stellte Fanny fest. »Ich bin nicht gewandt genug und zu dämlich, um in Rätseln zu sprechen. Ich wollte nur sagen, ich finde es gut, dass du nicht mehr so dunkle Farben trägst. Irgendwie bist du viel jünger geworden. Und fröhlicher.«
    »Das ›Neuerdings‹ hast du vergessen. Neuerdings bist du viel jünger geworden, Tante Clara, hättest du sagen müssen. Das wäre eindeutig gewesen. Wenn auch falsch. Grundfalsch sogar, sozusagen ein Kardinalfehler.«
    »Ich habe immer gedacht, dass die Juden keinen Kardinal haben.«
    »Und ich habe nicht geahnt, dass du den gleichen Humor hast wie dein Onkel Erwin.«
    »Ich wusste nicht, dass ich überhaupt Humor habe. Im Ernst, Clara, wenn ich Tante sagen soll, komme ich mir immer so unecht vor. Tante klingt so altmodisch. Irgendwie nach Kindergarten und Knicksen. Das heißt aber nicht, dass mir nicht bewusst ist, dass meine Mutter und du Schwestern gewesen seid. Ich wollte, ich hätte euch zusammen gesehen. Vater hat mir oft erzählt, wie sich die Leute nach euch umgedreht haben. Manchmal kann ich immer noch nicht fassen, dass ihr alle hier seid, du und Erwin, Claudette und Ora. So viel Familie, wie ich jetzt habe, hätte ich mir nie träumen lassen. Ich hatte ja noch nicht einmal einen Vater, und ich war ganz sicher, dass Großmutter tot war. Familie bedeutet mir alles, doch um Tante zu sagen, bin ich zu alt. Und du zu jung.«
    »Wie in aller Welt kommst du dauernd auf jung? Meine Jugend war an dem

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