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Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Titel: Neubeginn in der Rothschildallee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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auflösen konnten. Nur leider hat mir keiner je beigebracht, wie ich mich mit Anstand ahnungslos stelle, wenn ich was mitbekomme, was ich nicht wissen soll.«
    »Danke, Fanny. Von Herzen Dank. Ich könnte vor Erleichterung schreien. Mit deinen achtzehn Jahren bist du mutiger als deine kluge, lebenserfahrene, souveräne Tante. Du hast mich erlöst. Und deinen Vater. Wir wollten beide schon lange erzählen, was uns widerfahren ist, doch wir wussten nicht, wie. Als ich mich das letzte Mal verliebt habe, war ich jünger als du, und an erzählen war absolut nicht zu denken. Im Übrigen habe ich nie etwas für Geheimnisse übriggehabt.«
    »Ich auch nicht. Ich kann mir nicht merken, wer was nicht wissen darf. Aber ich kann es auch nicht haben, wenn andere sich vor mir in Acht nehmen müssen. Wenn Vater dich nur erwähnt hat, sah er aus wie ein Schulbub, der eine Fahrradklingel gestohlen hat. Manchmal hat er, genau wie du, mitten im Reden innegehalten und verlegen um sich geschaut. Da kam ich mir verdammt schofel vor. So, als hätte ich an der Tür gelauscht oder in seinen Papieren und Briefen herumgeschnüffelt. Oder mir schweigend angehört, wie ihn einer verleumdet.«
    »Hast du was dagegen, wenn ich dich mitten auf dem Sandweg küsse? Du bist die Tochter, die ich mir immer gewünscht habe. Du redest nicht in Rätseln, du wirkst nie, als müsstest du die ganze Last der Welt auf den Schultern tragen, und du hast das Herz auf dem richtigen Fleck. Aber wenn du Claudette verrätst, was ich eben gesagt habe, breche ich dir alle Knochen. Oder sie dir.«
    »Das würde Claudette nie tun.«
    »Natürlich nicht. Claudette weint lieber, als dass sie handelt. Mich hat die ganze Geheimnistuerei an die Zeit erinnert, als ich merkte, dass ich schwanger war und mit keinem darüber reden konnte. Damals war ich sicher, Vater würde mich aus dem Haus jagen, und manchmal wundere ich mich noch heute, dass er es nicht getan hat. Du kannst dir die Moralvorstellungen von 1917 nicht vorstellen, Fanny. Wir waren dabei, einen Krieg zu verlieren, und der Stammhalter, auf den meine Eltern alle Hoffnungen gesetzt hatten, war gefallen, aber am schlimmsten war eine Tochter mit einem unehelichen Balg. Fräulein Clara Sternberg. Familienstand ledig. Selbst die Putzfrau hat mich verachtet. Nur Erwin nicht. Ohne ihn wäre ich in den Main gegangen.«
    »Du hast es im Leben auch nicht leicht gehabt, Clara.«
    »Das kannst du laut sagen. Doch später habe ich meine verpatzte Jugend als die ideale Vorbereitung auf die Zeit gesehen, als Claudette mich zur unehelichen Großmutter gemacht hat. Mir ist es leicht geworden, Ora zu lieben. Bei Claudette hat es wesentlich länger gedauert, ehe ich so weit war. Kein Wunder, dass sie sich bei ihren Großeltern wohler gefühlt hat als bei ihrer Mutter. Opa Bär war ihr Ein und Alles. Sie wird nie darüber hinwegkommen, dass die Nazis ihn ermordet haben.«
    Fanny sammelte ihre Päckchen wieder ein. »Ich weiß nicht, was heute mit mir los ist. Wir reden über die traurigsten Dinge, aber mir gelingt es nicht, traurig zu sein. Ich wäre nie darauf gekommen, was aus einem roten Sommerkleid mit weißen Pünktchen alles werden kann. So etwas kommt doch nur in Romanen vor.«
    »Und in der Bibel. ›Im Anfang war das Wort‹, heißt es da. Und was ist aus dem Wort geworden? Die ganze Schöpfung. Jede Ameise und jeder Schweinehund, du und ich und Müllers Kuh. Komm, Fanny, hör nicht hin, wenn deine Tante philosophiert. Sie ist in dem Alter, in dem Frauen glauben, sie hätten ein Recht darauf, zu viel zu reden.«
    »Ich höre dir gerne zu.«
    »Das Kompliment würde selbst den Teufel freuen. In der Wittelsbacher Allee haben sie die Bank wieder aufgestellt, auf der ich als Kind immer saß, wenn ich nicht nach Hause wollte. Setzen wir uns einen Moment, und überlegen wir gemeinsam, wie wir deinem Vater beibringen, dass seine Tochter ihm – nein, ihm und seiner späten Geliebten – auf die Schliche gekommen ist.«
    »Hat er denn tatsächlich angenommen, ich wäre blind und taub und blöd? Und alle anderen auch.«
    »Er ist ein Mann. Vor allem hatte er Angst, du könntest gekränkt sein, wenn du erfährst, dass du nicht mehr die einzige Frau in seinem Leben bist. Du hast ja nur ihn.«
    »Sag ihm, ich bin zwar ein Einzelkind, aber ich habe teilen gelernt. Vielleicht sage ich ihm selber, dass ich absolut dafür bin, dass alles in der Familie bleibt. Weißt du was, ich laufe schnell die paar Schritte zurück zum Gemüseladen und kaufe

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