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Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Titel: Neubeginn in der Rothschildallee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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es sehr schlecht geht, immer noch besser gehen kann als anderen, das ist mir schon früh klar geworden.«
    »Wir reden absolut von der gleichen Sache. Nur in anderen Worten. Ich stelle immer wieder fest, dass Glück relativ ist.«
    »Und warum schaust du ausgerechnet mich an, wenn du das sagst?«, fragte Clara.
    »Ich hab dich nicht angeschaut. Warum sollte ich dich anschauen, wenn ich mit Fanny rede?«
    Auf Fotos in den Zeitungen und Illustrierten und auch in der Wochenschau im Kino streckten glückliche Kinder dem Betrachter riesige Orangen entgegen. Ora strahlte sehr, als sie beim Abendessen eine Orange auf ihrem Teller fand. Auch die Dreijährige hatte eine Vergangenheit – ihre Kohleaugen leuchteten, händeklatschend sang sie ein Lied, das sie am Strand von Tel Aviv von einem jungen Soldaten gelernt hatte, der sie mit seiner Mütze hatte spielen lassen. »Aba«, gurgelte das fröhliche Kind, das in seinem ersten Leben jedes männliche Wesen Vater genannt hatte.
    »Das«, begriff Erwin, »ist jüdisches Schicksal, Ora. Wir rudern alle rückwärts, aber lass dich nicht irremachen. Du sitzt im richtigen Boot. Wer beizeiten damit beginnt, seine Vergangenheit zu akzeptieren, lässt sich nicht so schnell von der Gegenwart unterkriegen. Ich habe Jahre gebraucht, um das zu lernen. Gib acht, Claudette, deine Tochter wird gleich an der Schale ersticken. Das arme Wurm hat in der Diaspora noch nicht gelernt, dass man Orangen nicht mit der Schale isst.«
    Wer sich Besonderes gönnen wollte, trank zum Frühstück ein Glas Orangensaft – aus Hollywood war die Kunde gekommen, die Schauspielerin Elizabeth Taylor, die schönste Frau der Welt, tue das auch. Hausfrauen würzten mit getrockneten Orangen- und Zitronenschalen ihr Gebäck, die sonntäglichen Cremespeisen und ausgefallene Mixgetränke starteten gerade ihren Siegeszug. Ein Konditor in der Neuen Kräme, der für seine originellen Einfälle bekannt war, verzierte seine zweistufigen Mokkatorten mit Orangenscheiben. Das Hühnchen in Zitronensauce adelte jedes Festessen und erst recht die Hausfrau, der das eingefallen war. Zum Dessert gab es Zitronenschaum, artige Kinder durften auch werktags Zitronenlimonade trinken, Fieberkranke genasen an heißer Zitrone. Flecken auf Wäsche und Händen wurden mit Zitronenschale bearbeitet. Zichorie, Kaffee-Ersatz und künstliches Aroma benutzten nur noch ganz arme Tröpfe. Es gab im Sommer sogar Enten und Gänse. Der hohen Preise wegen boten die Geflügelhändler Ratenzahlungen und auf Wunsch Geflügelteile an.
    »Lieber keine Ente als eine halbe«, entschied Betty, »so ein halbiertes Viech kann doch im Ofen nur strohtrocken werden. Demnächst gibt’s halbe Eier.«
    Weil Deutschlands Frauen immer noch Übung darin hatten, selbst in schmackhaften Suppen ein störendes Haar zu entdecken, wurde es Mode, beim Schlemmen einen Moment innezuhalten, die Hände zu falten und zu sagen: »Das haben wir alles unseren Politikern zu verdanken.« Der Wahlkampf zum ersten deutschen Bundestag war nämlich voll im Gang. Entschlossen aussehende Männer machten Menschen, die die Katastrophe des Jahrhunderts erlebt hatten, Hoffnungen, die ihnen von allein nie in den Sinn gekommen wären.
    Dass der 25. Juli 1949 ein bedeutsamer Tag sein würde, war allerdings kein leeres Versprechen. Zum ersten Mal seit 1939 sollte es wieder einen Sommerschlussverkauf geben. Claudette hatte das für Frauen elektrisierende Wort vergessen, Fanny es noch nie gehört. Frankfurt – Einheimische und Flüchtlinge, junge Stramme und alte Gebrechliche – rüstete sich zum Kampf um die Sonderangebote. Die ganze Woche gab es Berichte über Preissenkungen bis zu achtzig Prozent. Ein Ladenbesitzer auf der Friedberger Landstraße übersah, dass der Krieg vorbei war, denn er klebte ein großes gelbes Schild mit dem Text »Preise wie im Frieden« in sein Schaufenster. Viele Leute, so war zu lesen, hätten vor, in der Nacht zum Montag vor den Geschäften zu kampieren, um als Erste Beute zu machen. Trotz lauer Julinächte wurde zu Decken und Tee in Feldflaschen geraten.
    Eine Frau aus der Höhenstraße, mit der sich Clara oft beim Bäcker unterhielt, obwohl die stets »ihre Leute« sagte, wenn sie von Juden sprach, klärte Clara über die Läden auf, in denen es »preiswerte, aber doch solide und schöne« Kleiderstoffe gab. Sie war vor dem Krieg Modistin in einem vornehmen Atelier in der Kaiserstraße gewesen und hatte Clara erst vor drei Wochen an Fräulein Scholl vermittelt, eine

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