Neubeginn in Virgin River
sie weggegeben. Schulterfreie Kleider für schicke Wohltätigkeitsveranstaltungen brauchte sie jetzt ebenso wenig wie erotische Nachthemden für die Nächte, in denen Mark einmal nicht so lange arbeitete.
So oder so würde es für Mel ein Neubeginn sein. Es gab nichts, wohin sie zurückkehren konnte. Sie hatte alles aufgegeben, was sie an L. A. hätte binden können. Nun, da die Dinge in Virgin River sich anders als geplant entwickelt hatten, beschloss Mel, für ein paar Tage dort zu bleiben und dann nach Colorado zu fahren. Nun gut, dachte sie, es wird schön sein, in der Nähe von Joey, Bill und den Kindern zu leben. Dort kann ich ebenso gut neu anfangen wie irgendwo anders.
Sie und Joey waren jetzt schon lange ohne ihre Eltern. Joey, die vier Jahre älter war als Mel, war inzwischen seit fünfzehn Jahren mit Bill verheiratet. Ihre Mutter war gestorben, als Mel erst vier Jahre alt gewesen war. Sie konnte sich kaum an sie erinnern. Und ihr Vater, der wesentlich älter gewesen war als ihre Mutter, war vor zehn Jahren im Alter von siebzig friedlich auf seinem La-Z-boy-Soia. verstorben.
Marks Eltern lebten noch in L. A., aber sie hatte nie so recht mit ihnen warm werden können. Sie hatte sie immer als kühl und korrekt erlebt. Marks Tod hatte sie einander für kurze Zeit etwas nähergebracht, aber es hatte nur wenige Monate gedauert, bis Mel auffiel, dass sie nie von ihnen angerufen wurde. Sie selbst hatte sich um sie gekümmert, immer wieder nachgefragt, wie es ihnen ginge, aber dann sah es so aus, als ob sie nichts dagegen hätten, wenn sie aus ihrem Blickfeld verschwand. Es überraschte Mel auch nicht, als sie feststellte, dass sie die beiden nicht vermisste. Sie hatte ihnen nicht einmal gesagt, dass sie die Stadt verließ.
Es stimmte, sie hatte wirklich gute Freunde. Freundinnen, die sie von der Ausbildung und vom Krankenhaus her kannte. Sie riefen regelmäßig bei ihr an, sorgten dafür, dass sie gelegentlich aus dem Haus kam, und hörten ihr zu, wenn sie über Mark redete und seinen Tod beweinte. Nach einer Weile jedoch fing sie an, ihre Freunde mit Marks Tod in Verbindung zu bringen, obwohl sie sie liebte. Immer wenn Mel sie sah, reichte allein der mitleidsvolle Blick, um ihren Schmerz wieder aufzuwühlen. Alles erschien ihr wie in einen einzigen riesigen Ball des Elends verwickelt. Sie sehnte sich so sehr danach, neu anzufangen. Irgendwo, wo niemand davon wusste, wie leer ihr Leben geworden war.
Nach einem langen Tag ließ Mel den Säugling bei Doc und gönnte sich endlich die dringend notwendige Dusche, um sich gründlich von Kopf bis Fuß zu waschen. Nachdem sie ihr Haar getrocknet und sich ihr langes Flanellnachthemd und die dicken Fellslipper angezogen hatte, ging sie in Does Büro hinunter, um das Kind und ein Fläschchen zu holen. Ihr Aufzug erstaunte ihn so, dass er überrascht die Augen aufriss. „Ich werde sie füttern, schaukeln und zum Schlafen legen. Es sei denn, Sie hätten etwas anderes mit ihr vor“, sagte sie zu ihm.
„Auf keinen Fall“, antwortete er und überreichte ihr das Baby.
Oben, in ihrem Zimmer, fütterte Mel das Kind im Schaukelstuhl, und natürlich traten ihr dabei die Tränen in die Augen.
Da war noch etwas, das niemand hier wusste. Sie konnte keine Kinder bekommen. Zusammen mit Mark hatte sie versucht, ein Mittel gegen ihre Unfruchtbarkeit zu finden. Als sie geheiratet hatten, war sie achtundzwanzig und er vierunddreißig gewesen. Und da sie schon vorher zwei Jahre zusammen gewesen waren, wollten sie auch nicht länger warten. Verhütungsmittel hatte sie nie verwendet und nach einem weiteren Jahr schließlich einen Spezialisten aufgesucht.
Mit Mark schien alles in Ordnung zu sein, aber ihr mussten die Eileiter durchblasen und die Endometrioseherde außerhalb ihres Uterus entfernt werden. Genützt hatte es gar nichts. Sie hatte Hormone eingenommen und sich nach dem Geschlechtsverkehr auf den Kopf gestellt. Jeden Tag hatte sie ihre Temperatur gemessen, um ihren Eisprung nicht zu verpassen. So viele Schwangerschaftstests hatte sie zu Hause durchgeführt, dass sie sich besser im Großhandel eine Vorratspackung besorgt hätte. Und nichts geschah. Sie hatten es gerade zum ersten Mal mit einer In-vitro-Fertilisation versucht, die sie fünfzehntausend Dollar gekostet hatte, als Mark ermordet wurde. In irgendeinem Kühlschrank in L. A. lagen noch befruchtete Eizellen von ihr, auf die sie ja dann zurückgreifen könnte, falls ihre Sehnsucht nach einem Kind einmal so groß sein
Weitere Kostenlose Bücher