Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
Vom Netzwerk:
alle Romane von Arnold Zweig gelesen hatte, verstand sich selbst nicht mehr. Unseren Streit um die Röntgenaufnahme schien sie vergessen zu haben.
    Und nun werde ich versuchen, Ihnen zu schildern, was ich bis heute immer verschwiegen habe. Nicht einmal Vera weiß davon.
    Ausgerechnet an Heiligabend, wir hatten den ganzen Tag putzen müssen, ging es mir wieder besser. Die Hälfte der oberen Diensthalbjahre hatte Urlaub, Knut war geblieben und hoffte auf ein Silvester zu Hause. Seine Tritte gegen meine Matratze hatte er mal als Erziehung, mal als Spaß bezeichnet; wer nicht mitlachte, war selbst schuld. Ich hatte wieder Lust, an meinem ersten Kapitel zu arbeiten, und wollte Steinbecks »Früchte des Zorns« lesen, die ich in der Regimentsbuchhandlung gekauft hatte.
    Nach dem Abendbrot sangen ein paar Soldaten auf dem Flur Weihnachtslieder. Ich war im Zimmer geblieben und schrieb Geronimo, wie eigenartig es sei, allein zu sein, wenn auch nur für Minuten. Es komme mir vor, als schwänzte ich irgend etwas, so fremd sei mir das Alleinsein geworden.
    Einige Minuten später mußte ich tatsächlich ein Gefühl des Ertapptwerdens unterdrücken, als die Tür aufflog. Die halbe Kompanie schien auf Besuch zu kommen. Mein erster Impuls war aufzustehen, doch ich beherrschte mich. Ein Tritt gegen meinen Hocker ließ mich hochfahren. Knut verlangte Meldung, er befahl, daß ich mich nach Dienstvorschrift ankleidete und Pit, dem einzigen auf der Kompanie verbliebenen EK – das heißt Entlassungskandidat, also dem einzigen verbliebenen Soldaten im dritten Diensthalbjahr –, Meldung machte. Ich konnte sehen, wie man im Flur die Köpfe reckte und hochsprang. Ich fragte, was er wolle.
    Da umklammerte mich jemand von hinten und preßte mir die Arme an den Körper. Ich war völlig hilflos. Das bißchen Würde, das in so einer Situation noch möglich ist, glaubte ich zu bewahren, indem ich mich nicht wehrte. Mehrmals wurde ich hochgehoben, landete aber immer wieder auf den Füßen. MeinSpind stand offen. Knut warf mir die Stiefel gegen die Knie. Er brüllte. Ich wurde losgelassen.
    Ich legte das Koppel an und salutierte, ich salutierte langsam und lächelte dabei. Knut forderte ein Geständnis, ich solle es zugeben. Der mich umklammert hatte – mein Ajax-Thersites – stieß mich in den Rücken. Als ich mich umdrehte, fuhr er mich an, ich solle nach vorn sehen. Aber das alles wurde schnell belanglos, nachdem ich das Blatt mit meiner Schrift in Knuts Hand erkannt hatte. Noch bevor Gunther und Matthias vortraten, wurde mir klar, was hier geschah.
    Knut verlas stockend, mich und meine Sauklaue verfluchend, was ich an jenem Abend mitgeschrieben hatte. Nach jedem Satz fragte er: »Hast du das gesagt?« – »Ja, das habe ich gesagt«, antwortete mal Gunther, mal Matthias. »Ja, das habe ich gesagt.« Die Püffe in die Seite, die Kopfnüsse, die Stöße – all das hätte ich ertragen, wäre es nicht von diesem einen Wort begleitet gewesen. Spitzel! Jeder sagte es: Spitzel! Ein Spitzel! Knut ließ keinen Satz aus. Zu gut funktionierte diese Inszenierung. »Ja, das habe ich gesagt!« Knut war zum Magier geworden. Er zog die Fäden. Selbst diejenigen, mit denen ich mich gut verstand, mit denen ich mich sogar über Knut lustig gemacht hatte, riefen »Spitzel! Spitzel!«. Und sie warteten, daß endlich etwas geschah.
    Ob sie denn tatsächlich glaubten, so würden Spitzelberichte aussehen? Das könne ja wohl nur ich beantworten, rief Knut. Er wollte endlich von mir hören, warum und für wen ich das geschrieben habe. Jemand schlug mir auf den Kopf.
    Weil ich Schriftsteller bin, weil ich an einem Buch über die Armee arbeite! Warum gestand ich es nicht?
    »Lauter!« rief Knut. »Ich wollte meinem Freund einen richtigen Eindruck von der Armee geben!« wiederholte ich – jedes Wort ein Messerstich. Ich hatte aufgegeben, ich spielte mit, ichversuchte gar nicht mehr, sie zu überzeugen. In gewisser Weise bewunderte ich Knut sogar. Man knöpft sich einen Spitzel vor – eine Szene, wie ich sie selbst gern erfunden hätte.
    Pit, der sich täglich im Waschraum mit einem Schlauch duschte und dann, naß gekämmt, mit rosigem Gesicht, den Schlauch über der Schulter, über den Flur tänzelte, dieser Pit krähte, warum hier überhaupt diskutiert werde, die Sache sei doch klar: Spitzel!
    Aber Knut war noch nicht fertig. Was das denn für ein Freund sei, an den ich da schriebe, so ein Freund vielleicht wie jene Freundin, die ich ihnen aufgetischt hätte?
    Wieder

Weitere Kostenlose Bücher