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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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wurde ich umklammert. Gunther und Matthias sollten zuerst »reinhauen«. Mein Ajax-Thersites half ihnen aus der Verlegenheit und warf mich zu Boden. Ich fiel auf den Rücken. »In die Eier!« rief jemand. Ich spürte nichts.
    Was folgte, erspare ich Ihnen. Ihnen und mir. Ich staunte die ganze Zeit, daß sie das Richtige taten, daß sie instinktiv wußten, wie sie am tiefsten demütigen konnten. Vielleicht waren sie auch so treffsicher, weil sie guten Gewissens handelten, weil es niemanden gab, der etwas gegen die Bestrafung eines Spitzels gehabt hätte. Das heißt, einen gab es, doch das erfuhr ich erst später.
    Knuts einziger Fehler war: Er übertrieb. Meine Züchtigung dauerte zu lange. Und mit der Empfindung für Schmerz kehrte auch die Wut zurück und ein euphorisches Freiheitsgefühl: Ich hatte nichts mehr zu verlieren!
    Kurz darauf wurde ich zum Kartoffelschälen beordert. In dem gefliesten Lagerraum des Küchengebäudes saß ich auf einer umgestülpten Kiste, schälte vor mich hin und hörte zu, was die anderen Ausgestoßenen erzählten. Damals hätte ich sofort zugestimmt, die restlichen sechzehn Monate zwölf Stunden täglich Kartoffeln zu schälen. Es reihte sich Strafarbeit an Strafarbeit.Doch ich war froh, die Feiertage nicht auf der Kompanie verbringen zu müssen.
    Da mir kaum Zeit zum Schreiben blieb, machte ich meine Notizen auf der Toilette – hastige Stichworte, die Interpunktion auf Gedankenstriche reduziert. Es war Geronimo, der mir gratulierte. Ich hätte das neue Jahr mit einem eigenen, unverwechselbaren Stil begonnen. Merkwürdigerweise erwachte ich auch nicht mehr vor dem Weckpfiff.
    Mein Schweigen unterband jeden Annäherungsversuch. Entschuldigungen überhörte ich. Selbst jenen Unteroffizier, der mir eröffnete, man habe mich nicht in der Küche benachrichtigt, als meine Mutter zu Besuch gekommen war – er nannte die Schuldigen und bot sich als Zeuge an –, würdigte ich keines Wortes. Von dem Kuchen, den Mutter für mich abgegeben hatte, war nur das Netz und die leere Springform bis zu mir gelangt.
    Meine Rolle war in gewisser Weise bequem: Ich mußte keine Rücksichten mehr nehmen. Knuts Befehle ignorierte ich. Als er mir einmal die Unterwäsche aus dem Spind kehrte, landete seine Bettdecke auf dem Flur. Ich war zu allem bereit, auch zum unendlichen Kleinkrieg.

 
     
    Montag, 23. 4. 90
     
    Ende März, es war ein Sonntag, trat Nikolai in unsere Stube und damit in mein Leben. Nikolai besaß vielleicht die auffälligste Physiognomie der Kompanie. Die Spitze seiner schmalen langen Nase zeigte streng nach unten und gab seinem Gesicht etwas Widderhaftes. Sein Vater war Armenier, seine Mutter, eine Berlinerin, hatte später einen Deutschen geheiratet. Nikolai war ein sehr guter Läufer, zählte auf der Sturmbahn zu den Schnellsten und sollte als Fahrlehrer in der Kompanie bleiben. Seine Uniformsaß wie maßgeschneidert. Man glaubte immer, er habe Dienst, weil er selbst abends und am Wochenende nach Vorschrift gekleidet herumlief. Als er vor mir stehenblieb, sein Käppi abnahm und fragte, ob er sich setzen dürfe, erwartete ich, daß er sich als Abgesandter in einer wichtigen Mission zu erkennen gebe.
    Seine Bitte sei ungewöhnlich, doch die Bezahlung gut: zwei Schachteln »Club«. Dafür sollte ich einen Geburtstagsbrief schreiben, drei bis vier Seiten, nicht für ihn, sondern für Ulf Salwitzky. Dessen Frau habe Geburtstag, doch seit Tagen bringe Salwitzky kein Wort aufs Papier. Wahrscheinlich könne ich mehr verlangen, doch er, Nikolai, halte zwei Schachteln vorerst für angemessen.
    Mir gefiel das Geschäftsmäßige seines Vorschlags, obwohl ich nicht auf die Entlohnung angewiesen war. Vera saß wieder Modell und verfügte über genügend Geld, um meinen Sold (110 Mark) je nach Bedarf aufzubessern. 182
    »Du brauchst nur deinen Füller«, sagte Nikolai und erhob sich. Im Klubraum wartete Ulf Salwitzky, ein »Vize«, also zweites Diensthalbjahr. Schreibblock und Photos lagen vor ihm.
    Nikolai ließ sich zwei Tische weiter nieder, entnahm seiner Beintasche ein Bündel Buntstifte und begann zu zeichnen. Frau Salwitzky hatte eine auffällig schmale Oberlippe. Wenn sie lachte, entstanden auf ihren Wangen Grübchen.
    Als hätte ich nie etwas anderes getan, nahm ich ihm gegenüber Platz und bat ihn, von ihr zu erzählen. Salwitzky schniefte und zuckte mit den Schultern. »Wir sind verheiratet«, sagte er, »seit zwei Jahren.«
    Was sie am liebsten habe, fragte ich und wollte mir Notizen

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