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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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dem er hatte trinken wollen, von den Lippen, hob es höher und sagte: »Ich hätte es bestätigt, hätte gesagt, daß wir darüber gesprochen haben und daß du mir von deiner Geschichte erzählt hast …« Seine Oberlippe zuckte. »Du hast mir leid getan«, fuhr er fort, »aber so dämlich, wie du dich angestellt hast – man hätte glauben können, du wolltest es so.« Er reagierte nicht auf mein Lachen. Dann sah er mich an, hochmütig, traurig, weise, zu allem bereit und schicksalsergeben. Gegen ihn war Geronimo ein grobschlächtiges Kind.
    Das Essen kam, und Nikolai begann, von anderen Dingen zu reden. Er werde kein Fahrer, sondern übernehme den frei gewordenen Posten des Plakatmalers, mit eigener Werkstatt und allem Drum und Dran. Er lud mich ein, ihn am nächsten Tag, überhaupt immer, wann ich wollte, in seinem Atelier zu besuchen. Doch mein Entschluß, ihn zukünftig nicht mehr in meiner Nähe zu dulden, stand bereits fest.
    Enrico

 
     
    Mittwoch, 25. 4. 90
     
    Lieber Jo!
    Wir sind umgezogen, ich lebe auf hoher See! Der über die alten Dielen genagelte Bodenbelag, ein Reststück aus Freds Schatzkammer, schlägt von Tag zu Tag höhere Wellen und macht aus dem Ölradiator ein Boot, das auf und ab tanzt, sobald ich ihn mir von den Füßen um den Schreibtisch herum in den Rücken schiebe. Das ist der Preis für meinen Mittelalter-Ausblick.
    Wer zu uns will, steht häufig vor verschlossenem Tor, weil die alten Leute über uns – angeblich leben sie seit vierzig Jahren in wilder Ehe – nicht davon abzubringen sind abzuschließen, sobald sie das Haus verlassen oder wiederkommen. Besonders sie, Frau Käfer, genannt Käferchen, ist eine eifrige Schlüsselfee. Ilona hört inzwischen sogar mitten im Gespräch und bei geschlossenem Fenster, wenn jemand am Tor rüttelt. Wer sich aber einmal bis zu uns heraufgewagt hat, betritt einen hellen Empfangsraum – überall Grünpflanzen, die vom schäbigen Stasimobiliar ablenken sollen.
    Fred hat die Türen mit Schildern versehen, »Vertriebsbüro«zum Beispiel, und für jeden Raum Vorschriften verfaßt. In meinem Zimmer ist folgendes zu beachten: »Nicht mehr als zwei Personen gleichzeitig! Nicht springen oder stampfen! Ölradiator maximal Stufe 2! Beim Verlassen des Zimmers: Licht aus, Stecker raus! Fenster verschließen!« Seine letzte Anweisung, »Nicht rauchen, Brandgefahr!«, hat er handschriftlich durch »möglichst« ergänzt.
    Als ich gestern mit Fred den Haushaltswarenmann besuchte – wir müssen eine neue Stromleitung in mein Zimmer legen – und darum bat, uns die hinteren Räume zu zeigen, sahen sie in meiner Bitte den läppischen Vorwand eines Spions. »Wir haben nichts zu verbergen«, rief der Chef, »wenn Sie es sehen wollen … na bitte … machen Sie, was Sie wollen …« Und eilte voran. Gegen sein Mißtrauen vermochte meine Verbindlichkeit nichts. Im Gegenteil! Jede meiner Fragen erschien mir selbst höchst mißverständlich. Auf dem Rückweg aus dem Lager vertrat uns schließlich seine Frau den Weg. Sie hatte Tränen in den Augen, als sie ankündigte, »jetzt mal etwas geradezurücken«, weil ich wohl nicht wisse, wie lange sie schon ihr Geschäft hier hätten, wie mühsam es gewesen sei, all das herbeizuschaffen, aufzubauen und zu erhalten. »Es gab doch nichts! Die Gesundheit hat er sich ruiniert, seine Gesundheit!« Ihr Mann begleitete jedes Wort mit einem Laut wie aus einer gestopften Tuba. Gegen Ende fügte er ihrer verzweifelten Arie eine Zweitstimme hinzu, die aus nichts weiter bestand als »Da könn wir gar nüscht machen, gar nüscht! Da könn wir gar nüscht machen«.
    »Und jetzt können Sie gehen!« sagte seine Frau und blieb vor mir stehen. Ihre Tränen waren versiegt. Ich lud sie ein, unsere Räume zu besichtigen, erzählte von der Zeitung – »Ja«, antwortete sie, und es klang bitter, »die kennen wir!« – und bot ihnen an, kostenlos bei uns zu inserieren. »Worum solln wir das machen?« fragte er. »Die kenn uns doch hier olle, worum denn,worum solln wir das machen?« Die Tochter, eine Bohnenstange, erwiderte nicht mal unseren Gruß, doch sie schnaubte unglaublich laut in ihr Taschentuch, als wir den Laden verließen.
    Vorgestern hatte ich gerade die richtige Überschrift für einen Artikel gefunden (»Kapitäne retten sich zuerst«), als Ilona drei Gießener Journalisten ankündigte. Mit zwei von ihnen hatten wir den Wahlsonntag verbracht. Sie hoben vor Wiedersehensfreude die Arme, als wollten sie mich an sich drücken. Hinter

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