Neue Leben: Roman (German Edition)
ihnen erschien der Chef vom Dienst, bei dem ich mir das »Spiegeln« abgeschaut habe. Er wirkte ernst und verschlossen. Ich führte sie durch die Redaktion bis an meine Tür und stieg mit ihnen hinauf zu Jörg, Marion und Pringel, die sich zwei große Zimmer teilen. Wieder fanden die Gießener alles »spannend«, als erwarteten sie jeden Augenblick eine dramatische Wendung. Ich fragte nach ihrem Wahlartikel. Sie gaben sich erstaunt und waren untröstlich, weil der uns nicht erreicht hatte. Beim Kaffeetrinken belogen wir sie über die Höhe der Auflage, ließen uns bewundern – für Jörgs Artikel und unsere Skandalnummer – und lauschten ihren Betrachtungen über den »starken Anzeigenmarkt«, der hier heranwachse. Nach einer halben Stunde verabschiedeten sie sich mit dem Versprechen, den Artikel zu schicken.
Gegen sechs tauchte der Chef vom Dienst erneut auf und blieb mitten im Zimmer stehen. Ich saß auf Ilonas Stuhl, telephonierte und wartete auf den Baron, der uns versprochen hatte, seinen Rechtsanwalt und eine Überraschung mitzubringen. »Da haben Sie ja Glück«, sagte ich, »daß unser Tor offen war.«
Es sei wohl eher so, erwiderte er, daß das Glück auf unserer Seite liege, wir hätten Glück, daß er sich die Mühe gemacht habe, noch mal hereinzuschauen. Er nahm auf dem Stuhl für Anzeigenkunden Platz.
Er wolle ganz offen mit mir sprechen, er hoffe, wir wüßten das zu schätzen und würden die Gunst der Stunde erkennen.Seine Zeitung habe beschlossen, in Altenburg ein Blatt zu gründen, beste Drucktechnik, professionelle Journalistik, den Mantelteil (also alles Überregionale) übernehme man von Gießen. Allerdings sei zu überlegen, ob wir mit ihnen zusammenarbeiten wollten, was hieße, daß sie uns aufkauften, es aber durchaus im Bereich des Vorstellbaren liege, daß »einer von Ihnen die Leitung hier übernimmt …«
Ich unterbrach ihn und ging hinauf. Ich sprach ganz ruhig, weshalb Jörg zuerst gar nicht reagierte. »Nein«, sagte ich, »ich spinne nicht. Er sitzt da unten und wartet.«
Der Chef vom Dienst mußte alles wiederholen, was seine Stimmung spürbar verschlechterte. Er könne uns, nur damit wir Bescheid wüßten, keine Bedenkzeit geben, morgen Punkt neun Uhr sei die Sitzung, auf der die Entscheidung gelte, die er heute abend von hier mitnehme.
Jörg fuhr auf. So überlegen er mit Georg verhandelt hatte, so unbeherrscht benahm er sich jetzt.
»Und ob wir das können«, gurrte der Gießener, wobei man spürte, wie wohlig ihm war, als er die Beine ausstreckte und die Füße an den Knöcheln übereinanderlegte. Was er, Jörg, denn glaube? Ein paar Räume, Strom, Telephon, das wüßten wir doch. Wäre es mit rechten Dingen zugegangen, säßen jetzt ohnehin nicht wir in diesem Palast, sondern ganz andere Leute, wobei der Chef vom Dienst auf sich zeigte. Wenn man den Einheimischen einmal den Vortritt gelassen habe, so bedeute das nicht, daß man das immer so zu machen gedenke.
Jörg, der aus unerfindlichen Gründen seine Baskenmütze in Händen hielt und mit ihr herumwedelte, versuchte zu lachen. »Und wer schreibt?«
Das liege noch in unserer Hand. Sie jedenfalls hätten genug Profis, »junge, ehrgeizige, gut ausgebildete Leute«, die auf eine Chance warteten, sich zu beweisen. Und an Einheimischen mangelees ebensowenig. Auf ihre winzige Anzeige in der LVZ , die Winzigkeit schrumpfte zwischen seinem Daumen und Zeigefinger gegen null, hätten sich über dreißig Bewerber gemeldet, von denen sie sieben zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen hätten. Das bereite ihm kein Kopfzerbrechen. Und seine jungen Freunde, die übrigens immer und überall, das könnten wir ihm glauben, voller Hochachtung und Bewunderung von uns sprächen, seien ja längst dabei, die ersten Ausgaben vorzubereiten. »Die haben bereits Quartier bezogen.«
Jörg schwieg und blinzelte. Ich wartete darauf, in Panik zu geraten, und fragte, wozu sie uns überhaupt brauchten. Der Chef vom Dienst zog ein Schnäuzchen und ließ seinen Kopf auf die Brust fallen.
Er erkenne unsere Leistung an, begann er – sobald er den Mund öffnet, löst sich seine Zunge mit einem Schmatzlaut vom Gaumen –, er habe Respekt vor jungen Leuten, die etwas für sich und die Gesellschaft tun wollten, die die Ärmel hochkrempelten und mit Engagement zur Sache gingen. Wir seien die neuen Kräfte, auf die man setzen könne und auch müsse, denn von außen ließe sich viel machen, aber eben nicht alles. Das sei ein Vorsprung, den er uns gern
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