Neue Leben: Roman (German Edition)
gutschreibe. Er sei der erste, der unseren Einsatz für Demokratie und Marktwirtschaft anerkenne. Allerdings, bei Licht betrachtet, fehle es uns an Professionalität, woher sollte die in einer Diktatur auch kommen, aber das könnten wir Schritt um Schritt erlernen, da zähle er auf unseren guten Willen. Kurzum, es sei eine Frage der Sympathie und der Fairneß. Wir sollten es einmal so sehen: Wir würden genau das schreiben, wonach uns der Sinn stünde, und sie würden uns mit ihrer geballten Kraft, mit Erfahrung und Kapital, mit ihren Verbindungen und Tricks – ja, er rede offen, auch Tricks gehörten zum Geschäft, haha –, sie würden uns zu Hilfe kommen – gegen die LVZ , die alte Parteizeitung. Und so entstünde gemeinsamundunter Anstrengung aller etwas wirklich Neues, ein Zeichen, ja ein Vorbild für das ganze Land.
Er war von Satz zu Satz auf seinem Stuhl emporgewachsen und schwang nun wie ein Prophet sein haariges Fäustchen. »Ein Vorbild für das ganze Land!« wiederholte er.
Allein, fuhr er fort, hätten wir sowieso keine Chance gegen die Großen, die früher oder später hier auftauchen würden. Insofern wären sie, die Gießener, regelrecht ein Glücksfall für uns, auch wenn wir das jetzt noch nicht so sehen würden. Und mit einem seligen Lächeln fügte er hinzu: »Wenn die Großen hier einreiten, fragt Sie« – und damit stieß er seinen Finger über den Tisch – »niemand mehr!« Etwas verspätet begann sein Finger wie ein Metronom hin- und herzuwackeln. »Dann fragt Sie niemand mehr!« wiederholte er und lehnte sich zurück, als hätte ihn dieser Satz erschöpft.
Vielleicht blieb ich deshalb so ruhig, weil nur noch diese Rolle frei war, vielleicht aber auch, weil ich spürte, daß irgend etwas nicht stimmte. Als Anfangsverdacht reichte mir die Unfähigkeit des Chefs vom Dienst, eine plausible Sitzhaltung zu finden. Seine Gesten wirkten vorgetäuscht.
»Und wozu«, fragte ich, »brauchen Sie uns wirklich?«
»Nicht schlecht, nicht schlecht«, sagte er nach einem besonders lauten Schmatzer. »Also gut, spielen wir mit offenen Karten.« Er vollführte eine Art Bocksprung mit dem Stuhl, der am Teppich hängengeblieben war. »Was ich Ihnen gesagt habe, stimmt, ohne Abstriche. Wir kommen, so oder so. Der entscheidende Faktor jedoch ist wie immer – die Zeit! Jede Woche, die wir eher als die LVZ fünf Seiten Altenburg haben, bringt uns Abonnenten, die später nicht mehr oder nur sehr teuer zu bekommen sind. Wir müssen schnell sein!«
Seine haarigen Finger tremolierten auf der Tischplatte. »Halten Sie nur mal die Zeitungen nebeneinander, nach welchergreifen Sie ganz automatisch? Und was passiert, wenn Altenburg nach Thüringen kommt, was so sicher ist wie das Amen in der Kirche? Wer will dann die Leipziger noch, was interessiert uns Sachsen?«
»Und wo lassen Sie drucken?« fragte Jörg tonlos.
»Ich bin in Gera gewesen«, sagte er in einem Tonfall leutseliger Fachsimpelei. »In Gera haben sie Lichtsatz, die lecken sich jetzt schon die Finger, so ein Geschäft bringen wir denen. Aber nur nach unseren Konditionen. Sonst fliegen wir alles aus Gießen ein. Dann kommt die Zeitung eben erst um sieben. Wann kommt sie hier?« fragte er. »Um elf, um zwölf, um zwei?«
»Und wir?« fragte ich. »Wieviel sind wir Ihnen wert?«
»Enrico!« rief Jörg und schwieg.
Ein Lächeln beseelte den Chef vom Dienst, das so verräterisch war, daß ich das Matchbox-Auto erst bemerkte, als es meine Hand berührte.
»Für jeden einen, hier vor die Tür«, sagte er. Ich schob den kleinen BMW weiter zu Jörg, der ihn mit einer Handbewegung abwehrte, als verscheuchte er eine Fliege. »Und zwanzigtausend auf die Hand, bar, in einer Woche, D-Mark, zwanzigtausend, für jeden zehn.«
Er könne seine Glasperlen wieder einstecken, sagte Jörg und sah mich an. »Das ist doch unglaublich, nicht? Völlig unglaublich!«
Am liebsten hätte ich dem Gießener – Offenheit gegen Offenheit – ein Märchen erzählt. Dieselben Argumente, die er so eindrucksvoll vorgetragen habe, hätten uns bereits dazu bewogen, nach einem starken Partner Ausschau zu halten, nach einem, der in ganz Thüringen präsent sei und der über eine Druckerei in der Region verfügte. Doch Jörgs Empörung ließ für Bluffs keinen Spielraum.
Die Peripetie kündigte sich durch Schläge gegen das Hoftor und die gleichzeitig aufspringende Tür zum Vorraum an, aus dem das »Anybody home?« des Barons erklang, eine Frage, mit der er sich selbst ständig zum
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