Neue Leben: Roman (German Edition)
unseres zweiten gemeinsamen Weihnachten waren wir wohl eine glückliche Familie. Die Anwesenheit beider Großmütter besänftigte Robert. Er antwortete mir und stand nicht mehr auf, wenn ich mich zum Fernsehen neben ihn setzte.
Und dann, am Morgen des zweiten Weihnachtsfeiertages, wußte ich plötzlich, wie meine Novelle enden sollte. Ich verstand gar nicht, warum ich fast drei Jahre dafür gebraucht hatte.
Es muß mit der Stimmung bei uns zu tun gehabt haben, mit der von unserer Lektüre beeinflußten Stimmung. Michaela las Ecos »Der Name der Rose«, und Robert hatte von mir »TimThaler oder Das verkaufte Lachen« geschenkt bekommen. Lachen lag in der Luft, und auf einmal durfte auch Titus, mein Held, in der Novelle lächeln. Titus ließ sich nicht länger erpressen. An die Stelle des Leidens trat die Ironie. Er war erwachsen geworden.
Ich würde wieder von vorn beginnen, ganz von vorn, aber diesmal sicher im Tonfall. Das Lächeln von Titus tauchte die Novelle in ein heiteres Licht und befreite sie von der säuerlichen Tragik der Pubertät. 255
Im neuen Jahr machte ich mich an die Arbeit. Ich konnte gar nicht so schnell schreiben, wie mir die Ideen zuflogen. Und weil ich nun viel Zeit in meinem Refugium verbrachte – der Herr Türmer ist stets freundlich und gut gelaunt –, war auch Emilie Paulini froh.
Heute glaubt ja jeder, bei den Kommunalwahlen 256 bereits die Totenglocken des Systems gehört zu haben. Im nachhinein erscheint das plausibel.
Hatte es an der Uni noch große Diskussionen gegeben, um wieviel Uhr ein Student im Wahllokal zu sein habe, nämlich nicht später als eine Viertelstunde nach Öffnung, so kümmerten die Wahlen am Theater niemanden. Nachdem der Karl-Marx-Orden an Ceauşescu verliehen worden war, 257 hatte selbst Jonas mit Parteiaustritt gedroht.
Am Wahlsonntag war schönstes Maiwetter. Wir holten die Räder heraus und machten einen Ausflug. Ich kann Ihnen kaum eine Vorstellung von jenem Schaudern geben, das mich früher auf dem Weg zum Wahllokal begleitete. Wie auch immer man sich zu tarnen versuchte, man sah es jedem an – und jeder sah es einem selbst an –, daß der Weg zur Wahlurne führte. Das Anstehen vor dem Wahllokal funktionierte wie ein Pranger.
Wir machten ein Picknick an einem See nahe Frohburg und kehrten erst nachmittags zurück – da waren kaum noch Wahlgänger unterwegs. Wir hatten uns gerade hingelegt, als es klingelte. Robert öffnete. Ich dachte, es sei sein Freund Falk. Eine Frau und ein Mann wollten uns sprechen, sagte Robert. Wir zogen uns wieder an.
Ich fühlte mich kampfeslustig! Mit ein paar klaren Worten wollte ich die Sache erledigen.
Die Frau war um die Fünfzig und wippte wie eine Turmspringerin auf unserem Treppenabsatz. Ihre hellrot geschminkten Lippen hielten ein altes Lächeln fest. Er war Mitte Dreißig, hatte schütteres dottergelbes Haar und trug eine schwarze Lederjacke. Um den linken Ellbogen lässig auf das Treppengeländer stützen zu können, mußte er sich lächerlich tief zur Seite neigen. Aus seiner Faust ragte ein Kuli. In der Rechten hielt er eine Mappe.
Er sprach, sie beobachtete unser Frage-Antwort-Spiel.
Nein, sagte ich, wir beabsichtigten nicht, bis 18 Uhr das Wahllokal aufzusuchen, nein, der Grund sei nicht die Lokalpolitik, nein, die zur Wahl stehenden Personen kennten wir nicht, sie interessierten uns nicht, wir hätten eine andere Vorstellung von Wahlen.
Ich mühte mich, mein Lächeln niederzureden. Doch auch Michaela und selbst der mit den dottergelben Haaren begannen zu lächeln. Und sogar die Frau versuchte vergeblich, ihre hellrotenLippen am Lächeln zu hindern. Er war inzwischen mit dem Ellbogen am Geländer abgerutscht.
Ob sie weitere Auskünfte wünschten, fragte Michaela und klang dabei so freundlich, als hätte sie ihnen ein Glas Wasser angeboten. Nein, sagte er, sie hätten keine weiteren Fragen. Sie seien uns dankbar, weil wir so offen mit ihnen gesprochen hätten, nun könnten sie im Wahllokal Bescheid geben, da brauchten die ehrenamtlichen Helfer nicht länger zu warten, und auch die fliegende Wahlurne müsse ja nicht zu uns geschickt werden.
»Dann haben Sie den Weg nicht ganz umsonst gemacht«, sagte ich. Und Michaela fügte hinzu: »Da können Sie wenigstens den Rest vom Sonntag genießen.« – »Ach, schön wär’s«, rief der Dottergelbe, lachte und klopfte mit dem Kuli auf seine Mappe. Fast hätten wir uns zum Abschied die Hand gereicht.
Michaela mußte Robert beruhigen, der mitgehört hatte
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