Neue Leben: Roman (German Edition)
und fürchtete, man würde ihn unseretwegen in der Schule aufrufen. Er weinte, warf sich aufs Bett und rief: »Warum macht ihr es denn nie so wie die anderen!?« Als es erneut klingelte, zuckte er zusammen. Diesmal war es sein Freund Falk.
Ich weiß nicht, ob ich mich verständlich machen kann. Aber die Jämmerlichkeit der einen Seite machte die Jämmerlichkeit der anderen noch sichtbarer. Mit diesem Tag überfiel mich ein Gefühl absoluter Sinnlosigkeit. War es nicht absurd, sich jetzt wieder an die Novelle zu setzen? War sie nicht eine unfreiwillige Parodie? Überhaupt bekam alles, wie die Szene im Treppenhaus, einen Unterton, der zum Lachen reizte. Jegliche Emphase lief ins Leere, jede Geste, jedes Aufbegehren war überflüssig. Genauso unangemessen erschien mir der kühle Beobachterblick. Er war das Lächerlichste überhaupt, der größte Kitsch. 258
Ich setzte mich an meine Rheinmetall und hämmerte drauflos. Ich verstand nicht, was ich da schrieb. Ich ahnte nur, daß es mit Literatur nichts mehr zu tun hatte.
Es war ein Abschied, ich selbst vertrieb mich aus dem Paradies. Oder sollte ich sagen, ich trieb mir das Ich aus, ich opferte meine Individualität, meine eigene unverwechselbare Stimme, sofern ich sie überhaupt besessen hatte.
Ich glaubte, das, was ich tat, tun zu müssen, um mich zu bestrafen. Und in mir geißelte ich auch alle anderen, das ganze Land, das ganze System. Was ich da fabrizierte, war Dreck, aber nichts anderes als Dreck verdiente ich, dieser Staat, diese Gesellschaft! Vielleicht, dachte ich, hat Duchamp ähnlich empfunden, als er sein Pissoir zum Kunstwerk erklärte. So wie ihn vielleicht die Gewißheit gequält hat, nie wieder einen Pinsel in die Hand nehmen zu dürfen, nie wieder vor die Staffelei zu treten und die Farben auf der Palette zu riechen, so fühlte ich mich bei meinem Ausbruch. Es war ein brutaler Exorzismus, zu dem ich mich gezwungen sah. Mit jedem Satz meiner Wahlgeschichte, einer primitiven Fäkalienorgie, entfernte ich mich weiter von Arkadien. 259
Das, worüber ich mich empörte, waren nicht die widerwärtigen und ekelhaften Tatsachen, sondern daß sich diese widerwärtigen und ekelhaften Tatsachen nicht mehr auf herkömmliche Art mitteilen ließen, als mache jeder Versuch, die Wahrheit zu sagen und die Lüge Lüge zu nennen, die Unterscheidung nur noch schwerer.
Das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking 260 signalisierte mir vor allem eins: Die Welt würde bleiben, wie sie war. Ewig würde es so weitergehen. Etwas anderes hatteich nicht erwartet – oder doch? Ich verstand gar nicht, wieso ich bei jener Schreckensnachricht eine gewisse Erleichterung empfand.
In der Spielzeitpause fuhren wir mit Auto und Zelt nach Bulgarien. In Achtopol am Schwarzen Meer, wo Robert beim Anblick eines gestrandeten Delphins weinte, kam ich auf die Idee, Nikolai Ostrowskis »Wie der Stahl gehärtet wurde« 261 als Vorlage für ein bitterböses Opus zu nehmen.
Was in diesem Sommer tatsächlich geschehen war, wurde mir erst Ende August klar, zu Beginn der neuen Spielzeit. In der Dramaturgie schlossen wir Wetten ab, wer wieder zum Dienst antreten würde und wer bereits weg sei. Max, unser Jean, und seine Familie waren nach Ungarn gefahren. Er galt allgemein als Favorit fürs Abhauen. Max begriff dann gar nicht, warum man ihn, der zu spät zur Eröffnungsversammlung gekommen war und im Foyer gewartet hatte, derart überschwenglich begrüßte. Auf merkwürdige Art mischten sich dabei Freude und Enttäuschung, ja sogar ein bißchen Verachtung war dabei, als hätte man ihm mehr zugetraut.
Zur selben Zeit hatte es zwischen Michaela und mir Streit gegeben oder, besser gesagt, eine Verstimmung. Obwohl Michaela schon fünfunddreißig wurde, wünschten wir uns ein gemeinsames Kind. 262 Früher, sagte sie, sei sie beim Anblick des Blutes wie erlöst gewesen, heute deprimiere er sie bei jedem Mal mehr. Jede neue Menstruation geriet mir zum Vorwurf. Michaela bestand darauf, daß ich mich untersuchen ließe. Ich fand das demütigend, aber darüber zu diskutieren hätte noch mehr kaputtgemacht. Die Untersuchung war genau so, wie ich es mirvorgestellt hatte. Mit einem Becher stand ich auf der nach Desinfektionsmitteln stinkenden Toilette und wußte auf einmal nicht, an welche Frau ich denken sollte. Eine Woche später überreichte ich Michaela mein Zertifikat. »Komisch«, sagte sie, und das blieb auch ihr einziger Kommentar dazu.
Ihr Enrico T.
Montag, 21. 5.
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