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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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Miene verzieht. Er nickte allerdings, als sein Chef meinte, es gehöre nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, wie sie mit den beiden Alten umgegangen seien. Das Käferchen habe wimmernd und in ein Laken gewickelt dagelegen. »Da oben ist alles verwüstet«, sagte der Kleine, »nur Scherben und Splitter.« Die Standuhr wurde umgeworfen, die Bettdecke aufgeschlitzt. Wie es die Alten geschafft haben, den Schrank vor die Tür zu schieben, bleibt ein Rätsel.
    Als Jörg kam, waren die beiden Kripomänner gerade dabei, sich zu verabschieden. Sie reichten auch ihm die Hand. Er aber wich vor ihnen zurück. Der Kleine sagte etwas in der Art, daß wir es in der Bruchbude hier ja gemütlich hätten, eine belanglose Bemerkung, wie ich fand.
    Solche Beurteilungen solle er sich besser sparen, erwiderte Jörg mit eisiger Miene und hüllte sich in Schweigen, bis die beiden gegangen waren.
    Er sei nicht gewillt, platzte er dann heraus, solche Anzüglichkeiten hinzunehmen. Und wieso ich mich mit solchen Typen überhaupt an einen Tisch setzte. Ich sagte, daß ich schon oft mit ihnen an einem Tisch gesessen habe und mir gar nichts anderes übrigbleibe, weil ich sonst den Polizeibericht im Stehen mitschreiben müsse, den sie eigens für uns ins Leben gerufen haben.
    Anzüglich fand Jörg die Bemerkung über die Redaktion deshalb, weil er sie auf unser Mobiliar bezog. Er hatte die beiden Kripomänner während der Stasibesetzung kennengelernt und für Stasileute gehalten. Alle dort hätten sich geduzt. Erst nach und nach sei ihm klargeworden, daß er sich mit Staatsanwalt und Kriminalpolizei herumstritt, und nur diejenigen, die nie etwas sagten, zur Stasi gehörten. »Das heißt«, berichtigte er sich, »offizielldazugehörten.« Gerade der Kleine, die Eisenhand, habe ihm, Jörg, Aggressivität vorgeworfen. Jörg wollte sich nicht beruhigen.
    Er steht unter Marions Fuchtel. Letzte Woche hat er mir verraten, daß er seit der Redaktionsbesichtigung mit Piatkowski versuche, einen Artikel über ihn zu schreiben. 264 »Die Unerträglichkeit des Wahlsiegers« laute die Überschrift. Sobald er aber diese Überschrift vor sich sehe, sei er vollkommen vernagelt. Keinen Satz, keine Zeile, die er nicht sofort wieder gestrichen habe. Er fühle sich wie eine Fliege, die wieder und wieder gegen eine Scheibe knalle, und das ausgerechnet bei einem Artikel, der für ihn eine Frage der Selbstachtung sei, der Selbstachtung und der Unabhängigkeit.
    Dann hätten wir dem Hauskauf nicht zustimmen dürfen, sagte ich. Ja, sagte Jörg, das sei nicht in Ordnung gewesen, und er habe dem auch nicht zugestimmt. Was das denn heißen solle, fragte ich. Das könne er auch nicht sagen, er mache mir keinen Vorwurf, und er habe sich ja selbst darüber gefreut, das habe ich ja gesehen, und auf den Baron wolle er sich auch nicht herausreden. »Aber es ist nicht recht, es ist nicht recht.«
    »Die Leute haben Piatkowski gewählt«, sagte ich, »zumindest kann er das mit Recht von sich behaupten.«
    Das wisse er selbst. Aber er ertrage es nicht, wenn jemand wie Piatkowski wieder oben schwimme, das entwerte doch alles! Diese Frage wolle er stellen, wenigstens das, eine Frage!
    »Was sollen wir denn mit Leuten wie den Kripomännern machen? ›Stasi in den Tagebau‹ funktioniert nur im Sozialismus«, 265 sagte ich, worauf Jörg nichts erwiderte. Ich half ihm beim Aufräumen.
    Jörg ist voller Skrupel. Nach dem Erscheinen der Skandalnummer hatte er Angst, daß sich Meurer, der Schuldirektor, den er in seinem Lehrerartikel attackiert, etwas antut. Deshalb war Jörg jetzt froh, als er ihn auf der Straße sah. Meurer weiß ja nicht, wie Jörg aussieht. Vor Jörg haben sie hier in der Stadt richtig Angst. Auch ich profitiere von seinem Ruf.
    Es war eine Überwindung, sich wieder auf den eigenen Platz zu setzen und weiterzumachen. Am liebsten hätte ich den katholischen Pfarrer gebeten – der war mit dem Baron gekommen, um uns einen Artikel über das Altenburger Handreliquiar »anzuvertrauen« –, Zimmer für Zimmer mit seinem Weihrauchfaß einer reinigenden Prozedur zu unterziehen. Ilona war unter den Trostworten des Pfarrers erneut in Tränen ausgebrochen. Von Stunde zu Stunde steigerte sie sich mehr in etwas hinein, wovon sie nicht einmal selbst hätte sagen können, was es eigentlich war. Frau Schorba hatte ihren Posten übernommen und sie nach hinten geschickt, wo ich Ilonas Geheul aus der Küche hörte. Astrid, der Wolf, lief aufgeregt schnüffelnd von Zimmer zu Zimmer,

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