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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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ausführt und mit ihm spielt. Unermüdlich apportiert er ihr einen grünen Ball. Nachmittags führen ihn Georgs Jungen oder auch Robert aus. Diese Spaziergänge sind ein richtiger Jungbrunnen für ihn. Abends holt ihn der Baron wieder ab.
    Die Sorge des Barons um unser Wohlergehen hatte ihn nicht an einem wenig dezenten Abwerbungsversuch gehindert, allerdings vergeblich. Nie werde sie mir das in sie gesetzte Vertrauen vergessen, das sei nicht mit allem Geld der Welt aufzuwiegen, beteuerte Frau Schorba.
    Jeden Tag besucht sie das Käferchen und den Alten imKrankenhaus. Das Käferchen hat eine Lungenentzündung oder Schlimmeres; sie spricht wie im Fieber und brabbelt immerzu, wo sie denn jetzt hinsollten. Frau Schorba versucht dem Alten seinen Wahn auszureden und hofft, meinen Namen bald in seiner Gegenwart aussprechen zu können. Abgesehen von ihrer Warmherzigkeit und ihrer Eignung als Sekretärin wäre sie die ideale Anzeigenakquisiteurin und eine gute Buchhalterin. Bei den Computerschulungen ist sie die Unauffälligste, nie quatscht sie rein, nie ist sie unaufmerksam.
    Andy begann die Schulungen vor zwei Wochen damit, daß er sich ein kleines Schildchen mit seinem Namen anheftete und einen Teleskop-Kuli auszog. Er sprach, als stünde er vor hundert Leuten. Den Antworten auf seine eindringlichen Fragen folgte die jeweils überschwengliche Bestätigung »Rrischtig! Sehr good!«.
    Vor Andy sind alle gleich, alle Schüler, und jede und jeder muß sich einmal vor den Bildschirm setzen, was ungefähr so ist, als würde man an die Tafel gerufen. Pringel ist unser Primus, immer vorbereitet, immer begierig, die Antwort zu geben, wobei sein Kindergesicht leuchtet. Jörg hat eine ähnlich gute, wenn nicht sogar bessere Auffassungsgabe, nur ruhiger, ohne Strebertum.
    Ich fühle mich am ehesten als Familienvater 295 , der lieber einmal mehr fragt und das langsame Verstehen auf sich nimmt, nur damit auch alle das Klassenziel erreichen. Marion ist gehemmt. Ein früher Tadel vor versammelter Klasse hat ihr die Lust am Computer verdorben. So ist sie nolens volens auf eine Stufe mit Ilona gestellt, die sich gar nicht erst bemüht hat, dafür aber die Gemeinschaft des Klassenkollektivs genießt und Kritik und Tadel gleichermaßen als ihr gewidmete Aufmerksamkeit nimmt.Kerzengerade sitzt sie auf der Stuhlkante, um dann, gleich ob ihre Antwort richtig oder falsch ist, mit einem wohligen Stöhnen zurückzusinken – das kapiere ich nie, nie, heij?! –, womit sie regelmäßig Andys Blicke bis an ihren Rocksaum lockt.
    Andy bekommt hundert Mark pro Stunde von uns, ein Freundschaftspreis, sagte der Baron, was weder Jörg noch ich so sehen können. Doch hat er es fertiggebracht, daß wir nach drei Schulungen eine perfekte Zeitungsseite (auf zwei A4-Blätter verteilt) ausdruckten. Quod erat demonstrandum!
    Die schnitten wir dann zurecht und umstanden sie schließlich wie das Kindlein in der Krippe.
    Sei umarmt, Dein E.

 
     
    Donnerstag, 31. 5. 90
     
    Liebe Nicoletta!
    Solange ich im Schlaf noch Träume hatte, an die ich mich morgens erinnern konnte, standen sie in großem Gegensatz zu meinem Befinden. Fühlte ich mich elend, spann mein Gehirn die heitersten Gebilde. In vermeintlich guten Zeiten waren die Nächte oft schrecklich.
    In Dresden, am frühen Morgen des achten Oktober, riß mich die Türklingel aus dem Paradies. Gewohnheitsgemäß hatte ich den Schlüssel innen steckengelassen. Deshalb hätte meine Mutter nicht hereinkommen können. Ich schloß auf – doch da war niemand. Ich zog mich an, lief barfuß die Treppen hinunter, fand die Haustür angelehnt, sah hinaus, vergebens. Noch heute würde ich schwören, dieses Klingeln gehört zu haben.
    Im Bett versuchte ich, wieder in den Traum zu gelangen, zurückan jenen Tisch, an dem ich mit Vera Äpfel geschält und zu schiffchenförmigen Stücken zerschnitten hatte, um sie in Honig zu tunken. Doch das war nur Kulisse. Das eigentliche Glück verbarg sich in einer Welt, deren Logik mit dem Erwachen zerfiel. Was davon in der anderen, der sogenannten wirklichen Welt zurückblieb, war jedoch eine spürbare Wärme, etwas, womit ich mich tatsächlich trösten konnte.
    Zum zweiten Mal erwachte ich vom Sonntagsgeläut. Ich fand ein Glas Honig und toastete das alte Brot. Ich ging in die Dresdner Heide, die meisten Wege war ich seit der Schulzeit nicht mehr gegangen, und fuhr gegen eins über den Platz der Einheit und den Pirnaischen Platz zum Hauptbahnhof. Das, wovon im Radio die Rede gewesen

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