Neue Leben: Roman (German Edition)
immer so strahlend nach Hause. Und da dachte ich, das will ich auch machen.
Die Gesichter der Wartenden wirkten konzentriert und angestrengt, wenn überhaupt gesprochen wurde, dann leise. Da es so langsam voranging, hatten sich einige hingehockt und standen selbst beim Vorrücken nicht auf.
– Ist das wirklich nötig? – fragte ein hagerer Mann mit Halbglatze, der gerade aus dem Wahllokal gekommen war. Doch die Frau, die sich auf die Stufen des Eingangs gesetzt hatte, antwortete nicht. Sie sah nicht einmal auf. Der Wahlhelfer schüttelte den Kopf, ging weiter, grüßte hin und wieder jemanden und griff an seinen Krawattenknoten. Neben Michael blieb er stehen.
– Genosse Becker! – rief er. – Genosse Be… – Ein Ellbogen traf sein Brustbein. Der Wahlhelfer krümmte sich.
– Was pläkst du rum! Hier is kein Rummel! – zischte ein junger kräftiger Mann im beigefarbenen Anorak. – Siehste nicht, daß die auf Sendung sind!
Der Wahlhelfer nickte und hob beschwichtigend eine Hand. Er keuchte, er räusperte sich, stand aber wieder gerade und griff nach seinem Krawattenknoten.
– Mein Lieblingsbuch ist ›Ein Menschenschicksal‹ von Michail Scholochow, das hat mich sehr bewegt, dieses harte und schwere Leben, und wie er kämpft und hofft, weil er will, daß das Leben schön wird. Und dann muß ich sagen, wie es Scholochow gelingt, ein Menschenschicksal auf hundert Seiten zu bannen, wo andere dicke Wälzer schreiben und viel weniger sagen,
[Brief vom 21. 4. 90]
ja, Scholochow. Den bewundere ich. Und Aitmatow, Djamila, das schwere Glück, ja, Aitmatow und Scholochow.
Der Wahlhelfer hielt seinen linken Arm hoch und tippte penetrant auf seine Armbanduhr. Der junge Mann in dem beigefarbenen Anorak sah ihn mißtrauisch an.
– Laß das jetzt mal.
– Der Zeitplan. Wir haben einen Zeitplan!
– Wir auch. – Der junge Mann im beigefarbenen Anorak grinste hämisch.
– Ich denke, ich bin gut vorbereitet. Und ich freue mich darauf, meine Stimme jetzt abgeben zu dürfen. Und daß ich das zusammen mit anderen Erstwählern tun kann, darüber freue ich mich auch.
Der Wahlhelfer griff in die Ärmel seines Jacketts und zog die Hemdsärmel vor. Aus den Augenwinkeln beobachtete er Michael.
– Erstwähler?
Michael nickte.
– Und Sie?
– Auch Erstwähler.
– Und Ihr Blauhemd?
– Vergessen.
Der Wahlhelfer zupfte noch immer an seinen Ärmeln. – Sie kommen mit, gleich mit rein – sagte er zu Michael.
– Ich?
– Ausweis dabei? Vorbestraft?
– Nein, also ja, den Ausweis hab ich.
– Ich auch?
Der Wahlhelfer schüttelte kurz den Kopf. Er nahm seine Brille ab, rieb sich die Augen und sah Michael an.
– Kämm dich mal und schlaf nicht, wenn’s losgeht.
Der Wahlhelfer reichte Michael einen kleinen weißen Kamm und stellte sich auf die Zehenspitzen.
– Wir, mein Freund und ich, er ist auch Erstwähler, wir wollten eigentlich zusammen …
– Ohne Blauhemd? Tut mir leid!
– Und wenn ich’s hole, ich wohn gleich …
Der Wahlhelfer machte einen Satz zur Seite. – Genosse Becker, Wilfried, hier, hier bin ich! – Er winkte mit beiden Armen und lief an der Warteschlange entlang Richtung Eingang. Michael und Rolf folgten dem Wahlhelfer.
– Saftsack! So ein Saftsack!
– Kann ich doch nichts dafür, ich hab ihn gefra…
– So ein Arsch!
Plötzlich zog der Wahlhelfer Michael am Arm – einen Augenblick später befand sich die hellrote Schleife von Tinas Pferdeschwanz genau vor seiner Nase. Der Kragen ihres Blauhemds stand etwas ab. Sie roch nach Shampoo und frischer Wäsche. Von hinten wurde geschoben – Saftsack! – rief jemand.
Im nächsten Moment wurde Michael gegen Tina gedrückt. Er spürte ihren Hintern, ihre Haare, eine Schulter.
– Oh, oooh.
Sie drehte sich halb zu ihm um, so daß er das Grübchen auf ihrer rechten Wange sehen konnte.
– Oh, Entschuldigung, aber …
Michael tastete nach seinem Ausweis. Als er aufsah, warenSchleife und Pferdeschwanz verschwunden. Es roch ungelüftet, Schritte hallten durch den großen gefliesten Raum, dessen Rückseite aus Glasziegeln bestand. Die Wahlkommission hinter den aneinandergeschobenen Tischen hatte sich wie eine Schulklasse erhoben und wartete. Genau in der Mitte stand die Wahlurne, ein A4-Blatt bedeckte den Schlitz. Das Transparent an der Wand dahinter verkündete in weißer Schrift auf rotem Grund: Unsere Stimme den Kandidaten der Nationalen Front!
Das Licht wurde angeschaltet, die Neonröhren flackerten. Die Stimmen verloren
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